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Das Geheimnis des Falken

Titel: Das Geheimnis des Falken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daphne DuMaurier
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Traum, und ich konnte das Gefühl von Bedrückung und Furcht nicht los werden, das mich erfüllte. In meinem Schlaf war ich ein Reisender in die Vergangenheit gewesen und kein Touristenführer. Hand in Hand hatte ich mit Aldo in der Seitenkapelle der Kirche San Cipriano in Ruffano gestanden und das Altarbild über mir angestarrt. Das Bild stellte die Auferweckung des Lazarus dar. Aus dem klaffenden Grab stieg die Gestalt des Toten heraus, furchterregend noch eingehüllt in sein Leichentuch, bis auf das Gesicht, von dem die Bandagen irgendwie abgefallen waren und aufgerissene, jählings neu erwachte Augen sehen ließen, aus denen Lazarus voller Entsetzen auf seinen Herrn blickte. Christus, im Profil gezeigt, winkte ihm mit erhobenem Finger. Vor dem Grab lag, umflutet von ihren ausgebreiteten Kleidern, eine Frau in verzweifeltem Flehen, vermutlich war es Maria von Bethanien, die oft verwechselt wird mit Maria Magdalena.
    Aber in meinen Kinderaugen nahm sie sich eher wie Marta aus. Wie Marta, die Amme, die mich jeden Tag fütterte und anzog, die mich auf ihren Knien reiten ließ und mich Beo nannte. Dieses Altarbild verfolgte mich bis in meine Träume, und Aldo wußte das. An Sonn- und Festtagen, wenn wir unsere Eltern und Marta zur Kirche begleiteten, wobei sie nach ihrer Gewohnheit nicht im Dom, sondern in der Pfarrkirche San Cipriano ihren Gottesdienst hielten, ergab es sich, daß wir links im Schiff standen, ganz dicht an der Kapelle. Und meine Eltern, die wie alle Eltern keine Ahnung hatten von den Ängsten ihres Kindes, achteten nie auf meinen Bruder, der meine Hand umklammerte und mich immer näher an die weit offenen Türen der Kapelle heranzerrte, so daß ich wie unter einem Zwang den Kopf heben und schauen mußte.
    »Wenn wir nach Hause kommen«, flüsterte Aldo, »verkleide ich dich als Lazarus, und ich werde Christus sein und dich rufen.«
    Dies war das Schlimmste, noch anstrengender als das Altarbild selbst. Denn dann pflegte Aldo in dem Schrank herumzuwühlen, in dem Marta die schmutzige Wäsche aufbewahrte, und Vaters zerknülltes Nachthemd herauszuholen. Das zog er mir über den Kopf, wickelte mich ganz darin ein und bandagierte schließlich meinen Kopf mit meines Vaters abgelegter Bauchbinde.
    Empfindsam, wie ich war, sah ich in dieser Prozedur eine Art Erniedrigung, und bei dem Gedanken, in die schmutzige Wäsche eines Erwachsenen gehüllt zu werden, wurde mir schlecht in meinem kleinen Magen, aber zum Rebellieren war keine Zeit. Ich wurde in den Wandschrank oberhalb der Treppe gestoßen, und die Tür fiel zu. Der Schrank war geräumig, und auf den glatten Borten lag frisch die saubere Wäsche und duftete süß nach Lavendel. Hier war ich in Sicherheit, doch nicht für lange. Die Klinke des Schrankes drehte sich, die Tür ging leise auf, und Aldo rief: »Lazarus, komm heraus!« Meine Angst war so groß, und mein Geist gehorchte seinen Befehlen so automatisch, daß ich nicht wagte, mich zu sträuben. Was sollte ich auch anderes tun.
    Ich kam heraus, und das Schreckliche war, daß ich nicht wußte, ob ich Gott oder dem Teufel begegnen würde, denn nach Aldos genialer These waren die beiden eins und auf irgendeine Weise, über die er sich nie näher verbreitete, austauschbar.
    So trat mein Bruder zeitweilig als Christus auf, mit einem Handtuch drapiert und mit einem Spazierstock versehen, der den Hirtenstab abgab, und er hielt seine Rolle als Erlöser auch durch, indem er mich mit Süßigkeiten fütterte, seine Arme um mich schlang, sich brüderlich und liebreich aufführte.
    Bei anderen Gelegenheiten aber trug er das schwarze Hemd der faschistischen Jugendbewegung, der er angehörte. Dann stellte er, mit einer Kuchengabel ausgerüstet, den Teufel vor und bedrohte mich mit seiner kleinen Waffe, die er vorher auf dem Herd erhitzt hatte.
    Ich konnte nie verstehen, wieso Lazarus, der arme Mann, der eben erst von den Toten auferstanden war, sich den Hass des Teufels zugezogen hatte und warum Christus, sein Freund, ihn so schnöde im Stich ließ. Aber Aldo, um eine Antwort nie verlegen, setzte mir auseinander, daß der Kampf zwischen Gott und Teufel ewig währe, daß sie um Seelen spielten, so wie die Menschen auf Erden und in den Cafés von Ruffano miteinander würfelten. Es war keine sehr tröstliche Philosophie.
    Während ich wieder in meinem Hotelbett lag und eine Zigarette rauchte, fragte ich mich, was mich so plötzlich in diesen Alptraum zurückgestoßen hatte, in eine Welt, in der Aldo mein König war.

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