Das Geheimnis des Falken
Gestalt, von eigener Hand gefesselt und scharf abgehoben vom Himmel, reglos am Rande der Brüstung verharrte.
Ich kroch zu Aldo hin und schlang die Arme um seine Beine. »Nein«, sagte ich, »nein!«
In Wahrheit muß ich geschrien haben, denn meine Stimme klang wie ein spöttisches Echo in meinen Ohren wider und fiel in die Menge unmittelbar unter uns hinein, die sich zu fürchten begann. Ein Seufzer stieg empor und schwoll zu erregtem Protest.
»Höre doch«, rief ich, »sie wollen es nicht! Sie haben Angst! Du hast die eine Probe bestanden. Warum, um Himmels willen, warum willst du noch diese zweite?«
Er blickte lächelnd zu mir herab. »Weil es genau darauf ankommt: Einmal ist nie genug«, sagte er. »Das sollen sie lernen da unten. Man muß es immer wieder wagen, ein zweites, drittes, viertes Mal, gleichgültig, in welcher Form. Mach mir Platz!«
Er stieß mich mit dem Fuß rückwärts gegen die Tür. Ich fiel zur Seite und schlug mit der Brust gegen die Treppe. Benommen blieb ich einen Augenblick auf den Knien liegen, mit geschlossenen Augen und nach Atem ringend.
Als ich die Augen wieder öffnete, stand er mit ausgebreiteten Schwingen fertig zum Abflug da. Er wirkte nicht mehr grotesk. Er war schön. Als er sich abstieß und in die Luft schwang, griff der Aufwind augenblicklich unter die Flügel, die sich blähten und prall wurden. Sein Körper lag horizontal zwischen den Schwingen, und seine Arme und Beine in ihren Schlingen waren mit dem Mechanismus verschmolzen. Immer höher steigend, mühelos, selbstverständlich, schwebte er über die Menge hinweg, vom Wind getragen, wie er vorausgesagt hatte. Die Federn, eben noch silbern im Sonnenlicht, schimmerten jetzt wie Gold.
Westwärts gleitend, würde er jenseits des vorgesehenen Zielpunktes im Tal aufsetzen. Ich wartete, daß er die Reißleinen löste und den bremsenden Fallschirm in Aktion setzte, von dem er gesprochen hatte. Er tat es nicht.
Statt dessen mußte er sich aus den Bindungen befreit haben, so daß der Apparat, den er hatte konstruieren helfen, ohne ihn weiterschwebte. Er machte sich los und breitete die Arme aus wie die Flügel, die er abgestreift hatte. Dann ließ er sich fallen: Ein feiner dunkler Strich vor dem hellen Hintergrund des Himmels.
***
Auszüge aus dem ›Wochenkurier‹, Ruffano
Professor Aldo Donati, Direktor des Kunstrates und einer der führenden Männer unserer geliebten Vaterstadt, ist am Tage des Festivals durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen. Nicht nur sein Bruder und seine Freunde werden ihn betrauern, sondern jeder Student unserer Universität, jeder seiner Kollegen und Mitarbeiter und alle Einwohner der Stadt, die er so sehr geliebt hat. Der älteste Sohn des Aldo Donati, der viele Jahre lang Museumsdirektor im Palazzo Ducale war, und seiner Ehefrau Francesca wurde hierselbst am 17. November 1925 geboren und ist auch in Ruffano aufgewachsen. Beim Ausbruch des Krieges ging er zur Flugwaffe und wurde bald als Pilot eingesetzt. 1943 hinter den alliierten Linien abgeschossen, fand er die Möglichkeit zu fliehen. Während der deutschen Besetzung stellte er in den Bergen eine Partisanengruppe zusammen und kämpfte an der Seite seiner Kameraden bis zur Befreiung. Nach Ruffano zurückgekehrt, erfuhr er, daß sein Vater einige Zeit zuvor in einem alliierten Gefangenenlager gestorben und seine Mutter sowie sein jüngerer Bruder vermutlich einem Bombenangriff zum Opfer gefallen waren. Trotz dieses Verlustes gab Aldo Donati nicht auf, sondern begann an der Universität von Ruffano Kunstgeschichte zu studieren und machte sein Doktorexamen. Er wurde Mitglied, dann Direktor des Kunstrates und weihte den Rest seines Lebens seiner Arbeit, vor allem der Erhaltung des Palazzo Ducale und seiner Schätze, und – nicht zuletzt – war er auch unermüdlich in der Betreuung elternloser Studenten.
Als Präsident der Universität hatte ich den Vorzug, bei den Inszenierungen unserer Festivals mit ihm zusammenzuarbeiten, und ich kann nur sagen, ohne mir damit ein Urteil als Fachmann anmaßen zu wollen, daß die Fähigkeiten, die er auf diesem Gebiet an den Tag legte, alles übertrafen, was ich bisher gesehen hatte. Er war ein brillanter Regisseur. Seine Begeisterungsfähigkeit inspirierte seine Darsteller im engeren Sinne, aber auch alle anderen, die am Festival teil hatten, in einem Maße, daß sie glaubten, in einer wirklichen, nicht in einer Scheinwelt zu agieren. Ich spreche aus Erfahrung, da meine Frau und ich bis zum
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