Das Geheimnis Des Frühlings
ein gesamtes Tageseinkommen eingebüßt, denn ich wagte jetzt nicht mehr, Geld von Botticelli zu verlangen. Während ich in meine eigenen Kleider schlüpfte, hielt ich den Blick auf die hölzerne Wandtäfelung vor mir gerichtet und rief mir erneut jedes Wort unseres Gesprächs ins Gedächtnis, um zu ergründen, an welcher Stelle mir etwas Unbedachtes entschlüpft war.
Mein Erinnerungsvermögen ließ mich im Stich, meine Augen jedoch nicht: Eines der eichenen Paneele wies drei dunklere Ränder auf als die anderen.
Eine Geheimtür, kaum größer als eine Bibel, die einen Spalt breit offen stand.
Ich zog sie auf, schob eine Hand hinein und ertastete eine Pergamentrolle. Einen Moment lang vergaß ich Zorn und Verwirrung, denn ich hielt eine perfekte, bis auf mein eigenes Gesicht vollständige Kopie von Botticellis Gemälde in der Hand. Die Grazien waren da, der pummelige Amor, die kriegerische Gestalt, die dem Maler so ähnlich sah, die Madonna, die anderen Figuren und mein gesichtsloses Ebenbild in dem silbrigen Kleid. Sogar die Blumen, die das Gras bedeckten, waren dieselben. Der einzige Unterschied zu dem großen Holzgemälde bestand in dem Miniaturformat und dem feinen
Kohlestiftgitter, das die Kopie in Vierecke unterteilte, als wäre sie in einem Netz gefangen.
Nun gehöre ich für gewöhnlich nicht zu den Huren, die ihre Hände nicht vom Eigentum anderer Leute lassen können. Diebische Dirnen laufen Gefahr, ihre Finger zu verlieren, und Straßenmädchen, die ihre Nase in fremde Schatztruhen und Schmuckkästchen stecken, wird selbige nicht selten von den Stadtwächtern abgeschnitten. Aber heute war ich erstens verärgert, zweitens um meinen Lohn geprellt worden, und das Bild war so schön, dass ich es für mich haben wollte, um es mir immer wieder anschauen zu können, wenn mir der Sinn danach stand. Als kleine Entschädigung zog ich die Flugschrift des Mönches aus meinem Beutel, rollte sie zusammen, schob sie in das Geheimfach und schloss es mit einem Klicken. Die Worte Gottes als Strafe für das, was er mir, was er Chi-Chi angetan hatte - das erschien mir nur gerecht. Ich verstaute das Pergament in meinem Mieder und rauschte aus dem Raum und dann an den Dienern vorbei zur Tür hinaus.
Im selben Moment, da meine Schuhsohlen das warme Pflaster der im Licht der untergehenden Sonne liegenden Straße berührten, bereute ich, was ich getan hatte. Ich zögerte unschlüssig; erwog, noch einmal zurückzugehen, doch dann hörte ich den Schwarzen die Tür verschließen und entschied mich dagegen. Es war schon spät - wenn ich nicht zusah, dass ich nach Hause kam, würden mich die Nachtwächter verhaften. Ich würde Bembo morgen früh das Bild übergeben und ihm erzählen, es sei irgendwie in mein Mieder geraten, bevor ich den Heimweg angetreten hatte. Bembo würde mir jede Geschichte glauben, die ich ihm auftischte, er vertraute mir. Die ehrliche Hure mit dem goldenen Herzen und so weiter.
Etwas beruhigter machte ich mich auf den Weg zum Markt. Meine Gewissensbisse wegen des gestohlenen Bildes überwogen meine Verwirrung bezüglich Botticellis Reaktion auf meine Worte. Ich hoffte nur, er würde mein Gesicht nicht wieder wegkratzen und ein anderes Mädchen als Modell für Flora
benutzen. Aber eigentlich hielt ich das für unwahrscheinlich. Er hatte mich gemocht, so viel stand fest, und ich ihn auch - bis es zu jenem unerklärlichen Zwischenfall gekommen war.
Auf jeden Fall würde ich Enna die ganze Geschichte erzählen, wenn ich heimkam. Die Schalen unserer Liebe-Hass-Waage würden sich heute Abend auf der Seite der Freundschaft senken müssen, denn ein solcher Vorfall schrie geradezu nach einer verständnisvollen Zuhörerin. Ich schwatzte einem Markthändler sogar die letzten Bohnen ab, um die sie mich gebeten hatte, nur um sie in gute Laune zu versetzen. Dank Signore Botticelli war meine Geldbörse so leer wie ein ausgetrockneter Brunnen, weshalb ich den Mann mit einem Lächeln und einem Kuss auf seine ledrige Wange bezahlte. Ich sah keinen Grund zur Übertreibung, denn wenn ich sie nicht bekam, würden die Bohnen wie alle anderen Marktüberbleibsel auch an die Schweine verfüttert. Sie waren klein, und einige sogar bereits schwarz angelaufen, aber für einen Eintopf reichten sie aus, und sie würden Enna versöhnlich stimmen und als Bezahlung für die Zeit dienen, die sie mir opferte. Alle Händler packten schon ihre Waren zusammen, weil die Sonne endgültig unterging. Ein florentinisches Sprichwort besagt, dass
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