Das Geheimnis Des Frühlings
diejenigen, die der Mercata Nuova keinen Reiz abgewinnen können, schon tot sein müssen, ohne es zu wissen. Normalerweise streifte ich gern zwischen den Ständen umher, schnupperte an den Gewürzen und lauschte den fremdartigen Dialekten der Händler, die Tunfisch, Salz und Wein anpriesen, aber nicht heute. Heute hatte ich andere Dinge im Kopf und konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen.
Enna und ich teilten uns eine der zahlreichen abbruchreifen Bretterhütten, die sich am linken Arnoufer eng aneinanderdrängten, um nicht in den Strom zu kippen. Im Winter war es eiskalt, im Sommer stank es, und bei Regen standen sie unter Wasser (letztes Jahr reichte uns das Hochwasser in unserer Hütte bis zu den Knöcheln, und wir mussten uns bei einem Küfner Fässer ausborgen, über die wir dann zu unseren Schlafplätzen
gelangten.) Aber da wir unsere Nächte gewöhnlich anderswo verbrachten, sahen wir keinen Grund, unser schwer verdientes Geld für eine bessere Unterkunft auszugeben. Ich hoffte nur, dass Enna nicht ausgegangen war oder einen Freier mit nach Hause gebracht hatte, doch als ich mich dem Fenster näherte, hörte ich Stimmen und fluchte unterdrückt.
Verdammter Mist.
Sie hatte einen Kunden.
Unser Fenster war nicht verglast (zu teuer, und die Scheibe würde doch nur von den Straßenkindern eingeworfen werden), sondern wir benutzten einen fadenscheinigen braunen Vorhang, um uns ein Mindestmaß an Privatsphäre zu schaffen. Ich lauschte eine Weile. Wenn der Kunde bereits zum Ende gekommen war, konnte er jeden Moment das Haus verlassen. Wenn Enna ihn aber gerade erst in Stimmung brachte, würde ich in die Schänke gehen.
Folgendes bekam ich zu hören.
Die Stimme des Mannes klang leise und drohend. »Du hast etwas genommen, was dir nicht gehört. Ich will es zurück.«
Enna hörte sich nicht im Geringsten verängstigt an, woraus ich schloss, dass sie irgendein Rollenspiel spielten. Himmel, ich hatte schon mit Kunden zu tun, die verlangten, dass ich schrie, als würden sie mir Gewalt antun, oder dass ich mich wie ein Junge kleidete, damit sie es mir dann von hinten besorgen konnten.
»Ich weiß nicht, wovon du redest.« Das war Ennas Stimme, rau wie die einer Krähe von der Pfeife, die sie manchmal rauchte. Ich fragte mich, was das alles zu bedeuten hatte. Soweit ich wusste, stahl Enna auch nicht, dazu war sie zu gewitzt. Seltsam, dass wir beide am selben Tag zu Diebinnen geworden sein sollten.
»Ich frage dich zum letzten Mal.« Wieder der Mann. »Gib zurück, was du dir angeeignet hast, und ich lasse dich in Ruhe. Tust du das nicht, wirst du es bereuen.«
Jetzt wurde Enna ärgerlich. Ich wusste, dass sie es nicht leiden
konnte, wenn man ihr drohte, schon gar nicht in ihrem eigenen Haus. »Hört zu, Signore.« Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus. »Ich kann Euch vieles geben, wenn Ihr dafür bezahlt, und dann sind wir beide zufrieden. Aber ich habe nichts gestohlen, weder heute noch sonstwann. Wenn Ihr also nicht auf eine Nummer aus seid, dann geht Ihr jetzt besser.«
Der Mann seufzte, aber es klang nicht mehr bedrohlich; eher wie der Seufzer eines Kunden eines Färbers, dem mitgeteilt wird, dass sein Mantel statt blau grün gefärbt worden war. Ein dummes Versehen, aber kein Problem. »Wie du willst. Leb wohl, Luciana.«
Meine Haut begann zu prickeln.
Hölle und Teufel!
Er meinte mich .
Ich wartete darauf, dass Enna ihn über seinen Irrtum aufklärte, aber stattdessen nieste sie nur. Die Tür schlug zu, und ich hörte ein gurgelndes Geräusch. Wahrscheinlich hatte sich Enna auf den Schreck hin einen Becher Wein eingeschenkt. Ich wartete mit wild hämmerndem Herzen ab, um sicherzugehen, dass der unheimliche Besucher wirklich verschwunden war. Madonna. Ich tat gut daran, das Bild so schnell wie möglich zu Bembo zu bringen; es musste äußerst wichtig sein, wenn der Verlust jetzt schon bemerkt worden war. Das Wasser des Arno rauschte im Gleichklang mit dem Blut in meinen Adern. Nach hundert hastigen Herzschlägen betrat ich widerstrebend die Hütte.
Madonna .
Enna lag auf ihrem Rollbett. An ihrem Hals klaffte eine rote Lücke, nur ein weißer Hautlappen verhinderte, dass ihr Kopf vollends zu Boden fiel. Überall war Blut, es stand noch höher im Raum als das Wasser der Frühjahrsflut.
Dann wusste ich Bescheid.
Das Niesen, das ich gehört hatte, war das Geräusch gewesen, mit dem das Messer ihre Kehle aufgeschlitzt hatte.
Das Gurgeln des Weins ihr zu Boden strömendes Blut.
Ich konnte mich nicht
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