Das Geheimnis Des Frühlings
von der Stelle rühren, obgleich das Blut die Spitzen meiner Schuhe karminrot färbte. Ein warmer Strahl rann an meinen Beinen hinunter, als ich die Kontrolle über meine Blase verlor. Ich zwang mich, tief durchzuatmen und dachte angestrengt nach.
Sie waren hinter mir her.
Ich musste hier weg. So schnell wie möglich.
5
Diese drei Dinge nahm ich bei meiner Flucht mit:
Cosa uno : das Pergament von Botticelli, das fest zusammengerollt direkt neben meinem pochenden Herzen in meinem Mieder steckte.
Cosa due : ein grauer Pelzumhang, ein Weihnachtsgeschenk von Bembo.
Cosa tre : eine grüne Glasscherbe; ein vom Rand abgebrochenes Stück, das einzige, das mir von der Flasche geblieben war, die mich als Säugling von Venedig nach Florenz brachte. Es war hart wie Stein, gebogen wie eine Klaue und würde ein ausgezeichnetes Messer abgeben. Ich schob es unter mein Strumpfband.
Dann trat ich über die Blutlache hinweg und schloss Ennas Augen, wobei ich Mühe hatte, meinen Mageninhalt nicht über ihr totes Gesicht zu verteilen. Wenn ich ein Gebet gekannt hätte, hätte ich gebetet, aber ich konnte nur an Vero Madre denken, also wiederholte ich die beiden Worte immer wieder wie ein Ave Maria. Ich rief meine wirkliche Mutter an wie die heilige Jungfrau. Dann huschte ich zur Tür hinaus.
Wohin? Irgendwohin, wo ich heute Nacht sicher wäre. Zu Bembo? Ja, er hatte mir das Ganze schließlich eingebrockt. Ich würde zu ihm gehen, ihm alles erklären und das Bild zurückgeben.
Ich wollte nichts mehr damit zu tun haben; ich wünschte, ich könnte mein Gesicht von dem Original tilgen, und vor allem wünschte ich, nie von Botticelli gehört zu haben. Von nagender Angst erfüllt, zog ich meine Kapuze über meine verräterischen goldenen Flechten und verschwand im Dunkel.
Trotz der späten Stunde herrschte auf dem Ponte Vecchio das übliche Menschengedränge. Der florentinische Tag beginnt bei Sonnenuntergang, und hier sieht man, warum: Huren und andere Geschöpfe der Nacht versuchen, den Nachtwächtern ein Schnippchen zu schlagen, und zahlreiche gut gekleidete Ehepaare schnappen noch schnell frische Luft, bevor sie zu Bett gehen. Mit einem Mal wünschte ich mir, zu ihnen zu gehören. Für gewöhnlich gefällt mir das Leben, das ich führe, aber an diesem Abend erschien mir nichts erstrebenswerter als die Geborgenheit warmer Arme und eines geteilten Bettes (und zwar nicht nur für eine oder zwei Stunden), nachdem ich eine schöne warme Mahlzeit zu mir genommen hatte. Aber wer würde eine wie mich schon heiraten?
Ich schlich unerkannt weiter und begann, den zur Kirche San Miniato führenden Hügelpfad zu erklimmen. Die Stadthälfte, die auf der anderen Seite der alten Brücke liegt, ist als »Oltranto«, »dort drüben« bekannt, und dort wohnen nur die Reichen und Mächtigen von Florenz. In diesem exklusiven Viertel hatte Bembo seine schmucke neue Villa gebaut, hoch oben auf dem Hügel, weit weg von der Hitze und dem Gestank der Stadt. Nur der Duft der Zypressen und das Läuten der Glocken drangen zu den Anwohnern empor. Ich kannte den Weg, hatte ihn aber noch nie zu Fuß zurücklegen müssen; Mädchen mit meinen Talenten werden gewöhnlich in einer Kutsche gefahren (und nehmen dabei unzüchtige Handlungen an ihren Begleitern vor). Aber die Angst trieb mich voran, und so atmete ich schon bald den Geruch der Myrtenhecken ein und hörte das leise Plätschern des Springbrunnens, der sich in Bembos Karpfenteich ergoss. Kurz darauf erreichte ich die Tür des Hauses. Auf mein Klopfen hin erschien ein vertrautes
Gesicht: Carlo, Bembos Leibdiener, war so hässlich wie die Sünde, aber in diesem Moment hätte ich ihn küssen können, als wäre er meine Vero Madre .
»Guten Abend, Carlo.« ( Fatto uno : Ich kannte seinen Namen).
»Wie geht es deiner jungen Frau?« ( Fatto due : Ich wusste, dass Carlo vor kurzem geheiratet hatte, ein junges Hausmädchen, das Bembo als Belohnung für seinen treuen Diener mit einer großzügigen Mitgift ausgestattet hatte).
Die Tür wurde geöffnet, und Carlo lächelte breit. Er hob beide Hände zu seiner Brust, als würde er zwei Melonen umfassen, und führte die Hände dann an die Lippen. Während dieser pantomimischen Zurschaustellung ehelichen Glücks, sagte er nichts, und zwar, weil er ( fatto tre ) stumm war: Bembo hatte ihm mit seinem Einverständnis die Zunge entfernen lassen, nachdem er einen Vertrag unterzeichnet hatte, der Carlo bis zum Ende seiner Tage ein sorgenfreies Leben zusicherte. Versteht
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