Das Geheimnis Des Frühlings
Charakteren zuordnen? Flora zum Beispiel streut Blumen - sollen wir die mitzählen oder nur die an ihrer Person? Und im
Fall der Nymphe Chloris... Was ist mit den Blumen, die aus ihrem Mund quellen?« Er bemerkte meine betretene Miene. »Aber die Idee mit Zahlen ist grundsätzlich nicht schlecht. Vielleicht...«
Bruder Nikodemus hob eine verwitterte Hand. »Diese Diskussion erübrigt sich. Es gibt andere Wege, um herauszufinden, welche Blumen wirklich von Bedeutung sind. Denk nach, Bruder«, drängte er. »Welche Worte sind in jener Nacht unter dem Triumphbogen des Septimus Severus genau gefallen?«
Das Gedächtnis des alten Mannes nötigte mir Bewunderung ab. Ich selbst konnte mich an den Namen des Bogens kaum noch erinnern.
Bruder Guido überlegte angestrengt. »Sie sprachen Lateinisch, was zu der ganzen Inszenierung passte - der pompöse Bogen, die Wachposten, die Stadt, in der das Treffen stattfand. Papst Sixtus sagte wortwörtlich: Flora manus secretum.
»Die Blumen bergen das Geheimnis«, übersetzte Bruder Nikodemus. »Da haben wir ja unsere Antwort.« Wir drehten uns beide zu ihm um. »Wenn ihr dieses Bild zum ersten Mal sehen würdet, welche Figur würdet ihr dann am stärksten mit Blumen in Verbindung bringen?«
»Flora«, antworteten wir beide wie aus einem Munde.
»Genau. Sie ist von Kopf bis Fuß mit Blumen bedeckt und streut auch noch welche auf den Boden. Ihr Name ist natürlich der deutlichste Hinweis - Flora, das lateinische Wort für Blume.«
Er faltete wie ein Anwalt die Hände und begann im Raum auf und ab zu gehen.
»Euer Problem ist das Rätsel, denke ich. Flora manus secretum, Flora hütet das Geheimnis, kann vier verschiedene Bedeutungen haben. Erstens: Die Antwort lautet Flora wie in Flora und Fauna, die kollektive lateinische Bezeichnung für alle Pflanzen, was heißen würde, dass alle Blumen, alle Kräuter, alle Bäume und Früchte in dem Bild genau untersucht werden müssten, was, wie wir ja bereits festgestellt haben, nahezu
unmöglich ist. Zweitens: Die Antwort ist bei der Figur Flora zu suchen. Drittens: Es geht um die Stadt Florenz. Da ihr jeder Figur eine Stadt zugeordnet habt, ist das durchaus einleuchtend, denn dieses Bild ist ja in Florenz entstanden. Oder viertens, und das halte ich für am weitesten hergeholt...« Er sah mich zum zweiten Mal an. »Die Antwort liegt bei Euch.«
Ich sah mich um, falls noch jemand hinter uns den Raum betreten hatte. »Bei mir?« Es klang wie der Schrei eines Esels.
Bruder Guido heftete seinen blauen Blick auf mich.
»Ja«, bestätigte der Kräuterkundige. »Ihr habt doch für Flora Modell gesessen, oder?«
»Nun... ja, aber...««
»Dann hütet Ihr vielleicht das Geheimnis; Ihr seid aus einem bestimmten Grund ausgewählt worden.«
»Ich denke, das können wir ausschließen«, warf Bruder Guido rasch ein. »Signorina Vetra wurde von einem ihrer... Bekannten, einem reichen Freund Botticellis, gebeten, für die Flora zu sitzen.«
»Ah ja... Signore Bentivoglio, Gott schenke seiner Seele Frieden.« Der Segenswunsch klang nicht ganz aufrichtig, was den Schluss nahelegte, dass Bembos zweifelhafter Ruf sogar durch diese heiligen Mauern gesickert war.
»Ich denke, wir sollten unsere Bemühungen auf die Figur der Flora konzentrieren«, fuhr Bruder Nikodemus fort. »Sie ist eindeutig am stärksten mit Blumen verknüpft. Danach kommt Chloris, weil Blumen ihrem Mund entströmen wie die Wahrheit. Und sie greift nach Floras Ärmel - seht ihr? Wir können demnach wohl davon ausgehen, dass zwischen Chloris und Flora eine enge Beziehung besteht.«
»Vielleicht steht Chloris für eine nahe bei Florenz gelegene Stadt?«, schlug Bruder Guido vor.
»Gut möglich - vielleicht Prato oder Imola.«
Ich konnte mich nicht dazu äußern, denn bis vor einem Monat hatte ich Florenz noch nie verlassen, hatte nie eine Reise unternommen - es sei denn, man wollte den Umstand,
dass ich als Säugling in einer Flasche von Venedig hierhergekommen war, als Reise bezeichnen.
»Jetzt zu Flora. Was können wir abgesehen von den Blumen noch über sie sagen? Sie sind zwar ihr hervorstechendstes Merkmal, aber wir sollten auch auf andere Charakteristika achten.«
Ich wechselte einen Blick mit Bruder Guido. Beide lächelten wir verstohlen, denn dies war genau die Art, wie wir bei der Entschlüsselung des Rätsels immer vorgegangen waren.
»Sie ist das primum mobile der ganzen Szene.« Es war typisch für meinen gelehrten Kameraden, mit einem lateinischen Ausdruck zu
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