Das Geheimnis Des Frühlings
auf dem Boden verstreuen konnte. »Ich hielt Rosen in der Hand.«
Bruder Guidos Kopf fuhr hoch. »Sagt das noch einmal!«
Verwirrt wiederholte ich: »Ich hielt Rosen in der Hand.«
»Flora hielt Rosen in der Hand.« Er flüsterte die Worte wie ein Mann, der in einem Traum gefangen war. Dann begann er breit zu lächeln und fegte plötzlich all die anderen sorgsam zusammengetragenen Blüten mit dem Arm vom Tisch, sodass sie sich als duftender Haufen auf dem Boden türmten.
Wir starrten ihn an, als hätte er den Verstand verloren.
»Wir haben unsere Zeit verschwendet«, krähte er. »All die Blumen zu benennen, sie zu klassifizieren und von der Decke zu pflücken.« Er ahmte unser Tun während der letzten Stunden pantomimisch nach, dann prustete er zum ersten Mal seit Rom vor Lachen. »Wir waren hirnlose Dummköpfe, wir alle miteinander! Florahält das Geheimnis! Rosen! Mehr brauchen wir gar nicht zu wissen! Sie hält sie in den Händen! Sie ist die einzige Figur, die Blumen in den Händen hält. So gewöhnliche Blumen, die in jedem Garten und jeder Hecke wachsen! Den Namen hätten wir sofort gewusst.«
Bruder Nikodemus sank auf seinen Milchschemel, nahm seine Augengläser ab und schlug die Hände vors Gesicht. Als er sie sinken ließ, kam ein zahnloses Lächeln zum Vorschein.
»Ihr habt recht«, nickte er. »Und wenn wir wahre Gelehrte gewesen wären, hätten uns lateinischen Worte alles verraten, was wir wissen mussten. Das Rätsel lautete: >Flora manus secretum. ‹ Manus heißt in der Hand halten, abgeleitet von dem Wortstamm mano - Hand. Hätte Flora ein Geheimnis im metaphorischen Sinn bewahrt, so wie eine Hüterin, hätte Papst Sixtus das Verb >custodire< gebraucht: >Flora secretum custodit. <« Er wandte sich an mich. »Kind, Ihr habt das Geheimnis im wahrsten Sinne des Wortes gehalten, als Ihr Botticelli an jenem Tag Modell gesessen habt.« Wieder kicherte er trocken.
Ich begann mich ein wenig zu ärgern, denn ich wusste nicht, was an der ganzen Sache so komisch sein sollte. Wir hatten die Zeit von der Vesper bis zur Komplet damit vertan, Blumen zu benennen, und dann hatte es nur einen einzigen Moment gedauert, die richtige Antwort zu finden. Den Namen dieser vermaledeiten Blume hätten wir auf der Fahrt von Rom hierher schneller nennen können, als man einen Wind streichen ließ. Wenn Bruder Guido nicht im siebten Kreis seiner ganz persönlichen Hölle geschmort hätte! Ein Kind wäre dazu imstande gewesen; wir hätten den alten Mönch gar nicht gebraucht. Ich fing an, über das Abendessen nachzudenken, während sich Bruder Guido bei dem Kräuterkundigen entschuldigte.
»Es tut mir leid, Bruder. Wir hätten Euch gar nicht mit all dem behelligen müssen. Hinterher ist man immer klüger.«
»Oh doch, mein Sohn, denn du kennst die Bedeutung der Rosen noch nicht und weißt auch nicht, inwiefern sie etwas verbergen.«
Das stimmte. Wir waren der Lösung keinen Schritt näher gekommen.
»Da wir schon einmal hier sind«, seufzte Bruder Guido, »sollten wir alle Hilfsmittel nutzen, die uns heute Abend zur Verfügung stehen - vor allem Bruder Nikodemus’ umfassende Kenntnisse auf dem Gebiet der Botanik. Außerdem halte ich die in der Primavera verborgenen Codes für zu ausgeklügelt, um auf den ersten Blick entschlüsselt zu werden, sie springen dem Betrachter nicht sofort ins Auge. Dazu war Botticelli bislang zu klug - alle Puzzles lagen unter einem Schleier verborgen, den nur die Sieben lüften können. Wir müssen nach etwas Raffiniertem suchen. Ich glaube, die genaue Rosensorte und ihre speziellen Merkmale könnten von Bedeutung sein.«
Bruder Nikodemus entnahm seiner Sammlung eine Rose, blassrosa wie eine Muschel, dann eine zweite, die einen kräftigen Korallenton aufwies. Rosen von diesen Farben hielt ich in dem Bild in den Armen. Wir saßen alle am Tisch und starrten die beiden perfekt geformten Blüten an, als warteten wir darauf, dass sie zu uns sprechen würden.
»Rose, rosa centifolia«, begann Bruder Nikodemus. »Man nennt sie auch die Königin der Blumen. Römische Brautpaare wurden mit Rosen bekränzt, genau wie Statuen der Venus, des Amor und des Bacchus. Auch bei den Poeten wurde ein solcher Kopfschmuck sehr geschätzt - Anakreons Oden erwähnen Dichter, die bei den Festen der Flora und des Hymenäus Rosenkronen trugen.«
Es war mir schleierhaft, was eine Horde abergläubischer Dichter mit all dem zu tun haben sollten; das Brautthema schien mir entschieden bedeutsamer zu sein, doch
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