Das Geheimnis Des Frühlings
Dogaressa.
Die Gemahlin des Dogen und ehemalige Kurtisane, die Frau, die so schön war, dass sie ihre Maske in der Öffentlichkeit nie ablegte.
Also musste es sich bei dem Mann mit dem merkwürdigen Hut an ihrer Seite um den Dogen von Venedig handeln. Und wenn dem so war, war sie die Mutter der für Niccolo della Torre bestimmten Braut.
Madonna.
Doch ich konnte diesen Gedanken nicht lange nachhängen, denn in diesem Moment fiel mir auf:
Cosa due: dass links von den Kanzelstufen eine alle anderen überragende Gestalt auf einem kunstvoll geschnitzten Stuhl saß; ein Mann, den ich kannte, den fast alle Florentiner kannten. Obwohl ich ihm noch nie begegnet war, hatte ich sein Bild Dutzende von Malen gesehen: die edle Nase, das dunkellockige Haar, das längliche Gesicht. Dies war der Vater unserer Stadt, der Bankier der Reichen und Mächtigen und einer der herausragendsten Politker seiner Zeit. Der Mann, den man den Prächtigen nannte - Lorenzo de’ Medici.
Noch nie hatte ich einen Menschen gesehen, der eine solche Vitalität und nahezu greifbare Macht ausstrahlte. Er war schlicht gekleidet, in purpurroten Samt, der Farbe dunkler Trauben, die laut Gesetz nur die Männer der Familie Medici
und die Frauen der Tornabuoni tragen durften. Seine Finger waren ringlos, sein einziger Schmuck bestand in der Amtskette um seinen Hals. Nun hatte ich mich während des letzten irrwitzigen Monats in der Gesellschaft von Fürsten und Päpsten befunden - womit ich in meinen kühnsten Träumen nicht gerechnet hätte - und erkannte daher sofort, dass die Kleider dieses Mannes nur ein Zehntel von denen Don Ferrantes gekostet hatten. Dennoch war er eine Persönlichkeit, mit der man rechnen musste; er glich einem sprungbereiten Tiger. Schlagartig wurde mir klar, dass unser Plan undurchführbar war. Er wirkte nicht wie ein Mann, der je ernsthaft in Gefahr geraten würde, und er war ganz sicher kein Mann, an den ein Mönch und eine Hure mit einer wirren Geschichte von Rätseln und Intrigen herantreten konnten. Er sah aus wie der König der Welt. Doch als ich mich abwandte, um Bruder Guido zuzunüstern, dass wir uns unauffällig davonstehlen und diesen großen Mann selbst auf sich aufpassen lassen sollten, fiel mein Blick plötzlich auf:
Cosa tre: den großartigsten und atemberaubendsten der drei ungewöhnlichen Anblicke. Denn dort stand, mit Girlanden und aus Gras geflochtenen Bändern geschmückt, die Primavera auf einer großen Eichenholzstaffelei und erwartete das glückliche Paar.
Fertiggestellt.
Madonna.
Sie war... überwältigend.
Die in leuchtenden, kräftigen Farben gehaltenen Figuren wirkten lebensstrotzender als sämtliche Hochzeitsgäste zusammen. Sie waren überlebensgroße, zur Erde hinabgestiegene Götter und Göttinnen. Dort war die Neapel verkörpernde Fiammetta, Venus, die uns willkommen hieß, Botticelli als Merkur und Flora.
Ich.
Ich hatte während des letzten Monats ja nur den cartone zu Gesicht bekommen; war so an die gesichtslose Gestalt der Flora
gewöhnt, dass mir ganz entfallen war, wie akkurat Botticelli meine Züge wiedergegeben hatte. Mein Gesicht war schön, aber nicht unirdisch - meine Lippen kräuselten sich leicht, und in meinen grünen Augen lag ein wissender Ausdruck. Genau so sah ich aus, wenn ich etwas verheimlichte oder meinen Kunden aufzog oder lauschte, wenn sich mir Geheimnisse enthüllten, die ganz und gar nicht für meine Ohren bestimmt waren. Aber ein gewitztes Straßenmädchen weiß, wann es den Mund zu halten hat, und ich wusste das besser als die meisten anderen.
Die Flora der Primavera hütet ein Geheimnis.
Mir war zwar schleierhaft, was die Rosen zu bedeuten hatten, aber mir wurde sofort klar, dass ich mich in Bezug auf Lorenzo de’ Medici geirrt hatte. Er schwebte tatsächlich in Gefahr. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Mir fiel wieder ein, warum wir eigentlich hier waren; was Nikodemus von Padua über die eine einzelne Rose inmitten all der anderen gesagt hatte, auf die wir achten sollten. Dass wir sie uns in dem Originalgemälde ansehen mussten, um herauszufinden, ob sie zu Boden fiel oder aus ihm herauswuchs, ob sie zu Floras Strauß hinzugezählt oder als so unwichtig abgetan werden musste wie die Blumen, die das Gras bedeckten. Das Geheimnis lag sub rosa verborgen. Es war der Schlüssel zu allem; ein Prüfstein - ein Rätsel, das nur die sieben Verschwörer, die an der Hochzeit teilnahmen, zu lösen vermochten, wenn sie das Bild aus der Nähe
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