Das Geheimnis Des Frühlings
sehr ähnlich war: Er bevorzugte Knaben. Der einzige Mann, der meine Tugend hätte gefährden können, war Signore Cristoforo, ein junger Genueser, der angeheuert worden war, um mir das Lesen von Seekarten und alles andere beizubringen, was man über Schifffahrt und Nautik lernen konnte, ohne dazu an Bord eines Schiffes gehen zu müssen. Für eine junge venezianische Edelfrau sei es unerlässlich, über diese Dinge Bescheid zu wissen, sagte meine Mutter immer, und tatsächlich war ja der gesamte Reichtum meines Vaters auf dem Seehandel begründet. Nun wusste ich nicht viel über die Bevölkerung Genuas, aber wenn alle Bewohner dieser Stadt so hässlich waren wie Signore Cristoforo, dann hatte ich es nicht eilig, diesen Ort zu besichtigen. Natürlich musste ich unwillkürlich daran denken, dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, da ich mit Freuden dorthin gereist wäre - mit ihm, um den ständig all meine Gedanken kreisten, um eine Suche zu Ende zu bringen, die inzwischen einer anderen Welt anzugehören schien.
Nachmittags schlenderte ich manchmal mit meinem Gefolge durch die Stadt und nahm eine Gondel (so hießen die wie Klingen geformten Boote, wie ich jetzt wusste), oder gar die Privatbarke des Dogen, die Bucintoro. Letztere war ein Märchenschiff, groß und golden, mit einer goldenen Galionsfigur und einem mit Wellen und Schnörkeln verzierten Rumpf. Ich fühlte mich an Bord dieses schwimmenden Palastes immer unbehaglich, denn darin konnte man nicht in Ruhe durch die Kanäle gleiten - wo wir auch hinkamen, verriet die
Prunkbarke, wer darin saß, und die Venezianer bemühten sich, einen Blick auf die Tochter der Dogaressa zu erhaschen, die aus ihrem Kloster zurückgekehrt war, um sich auf ihre Hochzeit vorzubereiten. Auf diesen nachmittäglichen Ausflügen begleitete mich meine Mutter stets und redete unaufhörlich, aber immer nur über die Stadt, nie über uns. Einen Begriff hörte ich immer wieder - Stato del Mar, Stato del Mar. Mir schien, sie legte vor allem Wert darauf, dass ich das Konzept von Venedig als Seerepublik erfasste und begriff, dass diese Stadt dem Meer alles zu verdanken hatte. Wir gingen überall gemeinsam hin; fast gleich gekleidet, angetan mit Kaninchenfellumhängen, die den schneidenden Wind abhalten sollten, und chopines - Schuhen mit extrem hohen Sohlen, die die Füße vor dem unvermeidlichen Flutwasser schützten. Der einzige Unterschied zwischen uns bestand darin, dass meine Mutter ihre goldene Maske trug. Später erfuhr ich, dass sie fast hundert solcher, von den besten Handwerkern angefertigten Masken in ihrer Kammer aufbewahrte. Alle waren verschieden gearbeitet, aber samt und sonders aus Gold, und alle zeigten das Gesicht einer Löwin ohne Mähne. Obwohl viele Venezianer im Winter Masken trugen, sah ich niemals eine zweite Löwin und fragte mich, ob diese spezielle Maske ein Privileg meiner Mutter war. Und die ungezähmte Löwin gab sich alle Mühe, mir ihre Stadt zu zeigen.
Zuerst erzählte sie mir von unserem Heim, dem Palazzo Ducale. Ich hörte ihrer Beschreibung dieses Regierungssitzes, der Sonderrechte, die der Doge während seiner Amtszeit genoss und der Beschränkungen, denen er unterworfen war, nur mit halbem Ohr zu. Stattdessen betrachtete ich den weiϐen Spitzenpalast und stellte interessiert fest, dass die Ziegel gar nicht reinweiß, sondern mit rosafarbenen und saphirblauen Rauten durchsetzt waren. Es sah aus, als wären sie mit erbeuteten Edelsteinen besetzt, auf denen der Reichtum dieses Staates basierte. Wie alles in Venedig war nichts so, wie es auf den ersten Blick zu sein schien. Mein Blick wanderte an zwei Säulen
empor, die sich farblich von ihren schneeweißen Nachbarn abhoben wie Zähne, die sich nach dem Genuss von Rotwein verfärbt hatten. Meine Mutter, die meinem Blick gefolgt war, erklärte, dass diese Säulen vom Blut der Verräter der Republik getränkt waren, die man zwischen ihnen aufgehängt und dann gevierteilt hatte. Ich verstand nur zu gut, was sie mir damit sagen wollte.
Gehorsam lernte ich die Namen der sechs Stadtteile, und sagte sie auf wie ein Kind seinen Katechismus: San Marco, Castello, Connaregio, Dorsadoro, San Polo und schließlich Santa Croce. Dieses Viertel war nach einer zerstörten Kirche benannt worden, die denselben Namen trug wie Bruder Guidos früheres Heim, was mir einen scharfen Stich versetzte. Nach ein paar Wochen kannte ich jeden Kanal der Stadt und jeden Palast am Canal Grande, dem großen S-förmigen Wasserweg, der sich
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