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Das Geheimnis Des Frühlings

Das Geheimnis Des Frühlings

Titel: Das Geheimnis Des Frühlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Fiorato
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durch die Stadt schlängelte.
    S für Serenissima, S für Stato del Mar, sagte meine Mutter.
    Ich hätte eine L-Form für angemessener gehalten-L für Löwin.
    Vor jedem Haus musste ich die Namen der Besitzer und Vorbesitzer aufzählen und die Familien bis zurück zu den Kreuzzügen auswendig lernen. Ich kannte jeden Kirchturm und jede Glocke, konnte die Boote benennen, die sich am Zugang zum Kanal drängten, wusste, welche Waren sie transportierten und wo sie herkamen. Ich lernte, welche Handelswege sie befuhren, als wir die Werft besuchten und den Schiffsbauern zusahen. Auf dem Bug eines jeden Schiffes thronte ein stolzer Löwe. Meine Mutter redete pausenlos, als würde sie auf perverse Weise meine Gesellschaft genießen; als wolle sie die verpassten Gespräche von sechzehn Jahren in einigen wenigen Wochen nachholen. Nur persönliche Dinge ließ sie vollständig aus. Sie sprach von bestimmten Bildern und Fresken, die wir uns ansehen wollten, oder von den spitz zulaufenden Schuhen, die wir in den besten Ledergeschäften des Rialto-Distrikts kaufen würden. Einmal weckte sie mich früh und nahm
mich zum Fischmarkt mit, wo seltsame Meerestiere mit glasigen Augen feilgeboten wurden und wo es so bestialisch stank, dass ich mir am liebsten die Nase zugehalten hätte. Sie zeigte mir das jüdische Viertel, wo die Ungläubigen zu ihrem eigenen und dem Schutz der Stadt, wie sie behauptete, von den anderen Bürgern abgesondert lebten, und fuhr mit mir zu der Insel Murano, wo Venedigs wichtigste Exportgüter hergestellt wurde - Glaswaren. Dort sah ich zu, wie in Leder gekleidete Handwerker an ihren Öfen arbeiteten und aus heißen, bernsteinfarbenen Klumpen geschmolzenen Sandes wunderschöne kleine Kunstwerke schufen. Mit ihren langen Eisenstäben bliesen sie Glasblasen auf, die sich beim Abkühlen rosa verfärbten, und zwickten und zogen daran herum, bis wie durch ein Wunder eine herrliche Vase entstanden war. Obwohl mich die Schwefeldämpfe zum Husten reizten, wurde mir in dieser fröhlichen kleinen Hölle zum ersten Mal, seit ich in diese eisige Stadt gekommen war, wieder richtig warm. Von dort fuhren wir nach Burano, wo schwarz gekleidete, einander wie ein Ei dem anderen gleichende Frauen auf jeder Schwelle saßen, die letzten Strahlen der ersterbenden Wintersonne auskosteten und, ohne auf ihre Hände in ihrem Schoß hinabzublicken, hauchzarte Spitze klöppelten. Der Herbst ging in den Winter über, doch meine Mutter fuhr erbarmungslos damit fort, mir meine Heimat näherzubringen. Sie war es, die mir riet, in den Wintermonaten nie ohne Maske und ohne ein unter der Nase befestigtes Sträußchen getrockneter Blumen und Kräuter auszugehen, weil von der Lagune her ansteckende Krankheiten in die Stadt wehten. Sie war es, die mir beibrachte, heiße Steine in den Taschen zu tragen, um meine Hände daran zu wärmen. Sie lehrte mich, dass es nur eine Piazza in Venedig gab, nämlich den Markusplatz, und dass alle anderen campi, Felder, genannt wurden. Sie war es, die mich in der großen Basilika herumführte, mir die Namen eines jeden Heiligen nannte, mir jedes Fresko erklärte und mir die Schätze von unermesslichem Wert zeigte, die die Kirche beherbergte. Sie erzählte mir auch,
dass diese Kirche nicht etwa die Stadtkathedrale, sondern die Privatkapelle meines Vaters war, und versuchte mir begreiflich zu machen, über welche immense Macht meine Familie, die Familie Mocenigo verfügte. Ich bestaunte die goldene Altarwand, die reich mit Juwelen geschmückte Statue des heiligen Markus, das Quartett von Bronzepferden, das im Osten gestohlen worden war, und der Verdacht, der sich im Lauf der letzten Monate stetig verstärkt hatte, wurde zur Gewissheit. Ungeachtet dessen, was meine Mutter mir weismachen wollte, war ich zu dem Schluss gekommen, dass Venedig eine auf Beutestücken aus anderen Ländern aufgebaute Stadt war. Dieses Piratenvolk hatte alles, was seine Stadt von anderen abhob, anderswo gestohlen. Die Schätze in der Basilika, der Baustil der Häuser, die Verzierungen der Fenster jedes Palazzos, ja, sogar viele Wörter des venezianischen Dialekts - all das stammte ursprünglich aus dem Osten.
    Von meiner Mutter erfuhr ich auch, was mit denen geschah, die sich der Herrschaft meines Vaters widersetzten - ich ging mit ihr durch die prunkvollen Säle des Palastes, durch eine Tür und dann eine dunkle Holztreppe hinunter zu den Verliesen und Folterkammern, auch als die Brunnen oder pozzi bekannt, da sie unterhalb der Wasserlinie

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