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Das Geheimnis Des Frühlings

Das Geheimnis Des Frühlings

Titel: Das Geheimnis Des Frühlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Fiorato
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lagen. Einen dieser Räume werde ich nie vergessen, eine düstere, dunkel getäfelte quadratische Kammer, in deren Mitte drei Stufen zu einer von der Decke baumelnden Schlinge führten. Ich besichtigte auch die feuchten Zellen des berüchtigten Gefängnisses, wo die Gefangenen ohne Pause jeden Moment überwacht wurden, denn wenn einem Wärter einer der ihm anvertrauten Verbrecher entkam, musste er dessen Strafe zu Ende absitzen. Bis jetzt war noch niemandem die Flucht gelungen, berichtete mir meine Mutter von grausamem Stolz erfüllt - eine weitere unmissverständliche Warnung. Wer sich geringfügiger Vergehen schuldig gemacht hatte, wurde in den so genannten Bleikammern unter dem Dach festgehalten, wo die den Dachziegeln entströmende Hitze ihnen das Leben zur Hölle machte. In den Sommermonaten
kochte das Blut in ihren Adern, und ihr Fleisch begann wie zur Vorbereitung auf das Fegefeuer Blasen zu werfen. Kriminelle und Aufrührer erwarteten in Venedig entweder sengende Hitze oder klirrende Kälte, und ich konnte beim besten Willen nicht sagen, was schlimmer war. Während ich das Wasser von den Wänden tropfen sah und die Schreie der Gefangenen hörte, konnte ich nur daran denken, dass Bruder Guido womöglich gerade ein ähnliches Schicksal erlitt. Trotzdem kam meine Mutter während dieser gesamten Zeit nicht einmal auf meine Beziehung zu dem Mönch zu sprechen; fragte nie, wo und unter welchen Umständen wir uns begegnet waren. Sie war eine angenehme Gesellschafterin, gebildet, geistreich und manchmal sogar witzig genug, um mich zum Lachen zu bringen, aber ich fühlte mich nie als ihre Tochter. Dennoch beobachtete ich sie mit widerwilliger Bewunderung. Sie hatte eine weiche, tiefe Stimme, der ich die meine anzupassen versuchte. Auf ihre Anweisung hin gewöhnte ich mir meine rüde, zotige Ausdrucksweise weitgehend ab. Ich versuchte auch, ihren schwebenden Gang nachzuahmen - sie brachte es fertig, sogar auf den hohen Sohlen der chopines noch anmutig dahinzuschreiten, während ich stolperte und stakste wie ein neugeborenes Fohlen. Ich imitierte ihre kerzengerade Haltung und die Art, wie sie mit ihren weißen Händen Bröckchen von ihrer Platte pickte und mit zierlichen Gesten zum Mund führte oder mit ihrem Tranchiermesser Fleischstücke von einem Braten schnitt. Ich begann, mir den Mund mit meinem Ärmel abzuwischen, wie sie es tat, und nicht mehr mit dem Handrücken, und ein seidenes Taschentuch bei mir zu tragen, in das ich mich schnäuzte, wenn meine Nase lief, statt wie früher meinen Rock oder mein Haar dazu zu benutzen. Ich bewunderte sie als Frau; bewunderte den Charme, mit dem sie jeden bezauberte, wenn sie wollte - von dem Mann, der unsere Gondel lenkte, bis hin zu den Prinzen aus dem Orient, die bei ihr zu Abend aßen. Ich bewunderte sie, ja, aber sie war keine Mutter für mich. Selbst an den Tagen, an denen die Sonne fast so heiß
brannte wie in der Toskana und wir uns mit unseren Näharbeiten auf das Dach zurückzogen, sprachen wir nicht über das, was unsere Herzen bewegte, obwohl wir ganz allein waren. Bei diesen Gelegenheiten trugen wir breitkrempige Hüte mit Löchern, durch die wir unsere goldenen Locken zogen und sie von der Sonne zu einem noch leuchtenderen Blond bleichen ließen. Manchmal musterte ich meine Mutter, die sogar in dieser Aufmachung noch eine majestätische Würde ausstrahlte, verstohlen und forschte in ihrem Gesicht, wenn sie es nicht bemerkte. Wir waren uns ungemein ähnlich und hätten doch nicht verschiedener sein können.
    Meinem Vater wurde ich kurz nach meiner Ankunft offiziell vorgestellt, am Tag seiner Rückkehr nach Venedig. Ich durfte bei einer Audienz zugegen sein, die er einigen Bürgern gewährte. Nach drei Verhandlungen über Verschiffungsrechte und einem nachbarlichen Streit bezüglich der Nutzung eines Kanals winkte er mich zu sich. Ich küsste seine Hand, wie es von mir erwartet wurde, blickte in seine blassblauen Augen und empfand nichts. Seine Haut schimmerte wächsern, und seine würdevolle Ruhe verstärkte den Eindruck, dass er gar kein Mann aus Fleisch und Blut war.
    »Ich freue mich, dass du zu uns zurückgekehrt bist, Luciana«, sagte er freundlich. »Du darfst mich küssen.« Mir blieb gerade noch Zeit, seine Wange mit den Lippen zu streifen, bevor ich aus dem Raum geführt wurde. Und näher kam ich ihm auch nicht. Ich sah ihn selten, denn er nahm sogar die Mahlzeiten getrennt von uns ein, abgesehen von formellen Anlässen, und dann saß er am Kopfende der

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