Das Geheimnis Des Frühlings
mich, ein Mädchen, das nur dazu taugte, eine vorteilhafte Partie zu machen. Sie hatten mich in dem Kloster verrotten lassen, bis ihr Herzensjunge starb.
Meine Mutter maß mich mit einem durchbohrenden, diesmal fast trotzigen Blick, doch die Fahrt neigte sich dem Ende zu, die Landschaft veränderte sich und mit ihr zu ihrer sichtlichen Erleichterung auch das Gesprächsthema. Der Kanal, an dessen Ende sich eine große Kuppelkirche erhob, ergoss sich in das offene Wasser. Wir tanzten auf den kleinen Wellen am Ufer entlang, bis unsere Barke an einem großen, von Tauben wimmelnden Platz anlegte, der von Kolonnaden und hoch in den Himmel hineinragenden Zwillingssäulen gesäumt war. Ein Kampanile mit korallenroter Spitze ragte aus der Lagune empor wie ein Schwert mit blutverklebter Klinge. Den Hintergrund bildete eine ferne Bergkette, die sich silbrig hinter der Stadt erhob.
»Und hier« - ein goldener Ärmel raschelte - »siehst du dein neues Heim.«
Ich betrachtete den riesigen weißen Palast, der massiv und zierlich zugleich wirkte. Die wie Schnee schimmernden Mauern waren mit schlanken Spitztürmen und filigranem Flechtwerk verziert. Mit jeder Bewegung des Wassers änderte sich die Schattierung der Fassade wie die eines irisierenden Opals im Sonnenlicht. Wie selbstherrlich und anmaßend, einen solchen Palast aus Spitze, das Heim des Dogen der Stadt, direkt am Wasserrand zu bauen. Eigentlich hätte ich eher mit einer Burg oder Zitadelle gerechnet, aber der Doge schien über eine so große Macht zu verfügen, dass er es nicht nötig hatte, sich hinter zinnenbewehrten Brustwehren und Schießscharten zu verschanzen.
Neben diesem Schneepalast kauerte eine im Stil des Ostens gehaltene Basilika wie ein orientalischer Drache. Die goldenen Kuppeln und juwelengeschmückten Fresken schimmerten im Licht, die goldenen Türme ragten wie türkische Spieße zum Himmel empor. Ich hätte mich genauso gut in Konstantinopel befinden können.
Meine neue Heimat.
Der Diener der Dogaressa vertäute das Boot und half ihr an Land, dann drehte sich meine Mutter um, um mir denselben Dienst zu erweisen. Einen irrwitzigen Moment lang erwog ich, das goldene Band, das uns aneinanderfesselte, mit dem Messer aus dem Rand meiner grünen Flasche, der Glasscherbe zu durchtrennen, die die Schwestern für mich aufgehoben hatten, und zu versuchen, mit dem Boot aus diesem Wassergefängnis zu entkommen. Aber ich wusste, dass ich nicht weit kommen würde, und ich vermutete, es würde sich als wesentlich schwieriger erweisen, die Barke mit dem Stab zu steuern, als es aussah. Widerwillig ergriff ich die Hand meiner Mutter, stieg an Land und sah ihr dabei ebenso trotzig wie sie mir kurz zuvor in das maskierte Gesicht. Die Vorderfront des Palastes hinter ihr glich einem unbewegten Gesicht und starren Augen, die den ihren an Ausdruckslosigkeit in nichts nachstanden.
»Trägst du das Ding immer?«, fragte ich, als wir auf die Palasttüren zugingen. »Diese Löwenmaske?«
»Außerhalb der Palastmauern ja. Der Löwe ist das Wahrzeichen unserer großen Stadt und die Löwin das Oberhaupt ihrer Familie.«
Eine so aufrichtige Antwort hatte ich nicht erwartet; eine solche Offenheit, mit der sie das Verhältnis zu meinem Vater beschrieb und zugab, dass sie die wahre Herrscherin von Venedig war. Ihre Eier klacken gegeneinander wie Glocken , hatte Don Ferrante gesagt.
Als wäre ihr bewusst geworden, dass sie zu viel preisgegeben hatte, fuhr sie hastig fort: »Das wird von mir erwartet. So, wie mein Volk mich sieht, schätzt es mich auch ein.«
Und in diesem Moment erkannte ich, was und wie sie wirklich war: eine kalte, schöne Fassade, hinter der der Tod lauerte - wie diese Stadt, die einst meine Heimat gewesen war und es jetzt wieder sein würde.
2
In den nächsten Monaten begann auch ich eine Maske zu tragen. Äußerlich erhielt ich einen Firnis von Vornehmheit, doch innerlich fühlte ich mich so elend wie nie zuvor. Ich hatte alles, und ich hatte nichts. Ich wurde verwöhnt, herausgeputzt und zu einer jungen Adligen geformt, dennoch meinte ich, noch nie so unglücklich gewesen zu sein.
Die Morgen verbrachte ich wie ein Vogel im Käfig in den luxuriösen Gemächern des Dogen in dem schneeweißen Palazzo Ducale. Ich vergaß nie, dass ich in Wirklichkeit nichts anderes als eine Gefangene war, denn mir wurde bald eine Wärterin zugewiesen, eine unansehnliche Frau namens Marta, die mir aufwarten sollte. Sie war ein mürrisches Geschöpf mit
einer haarigen Warze
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