Das Geheimnis Des Frühlings
ich
den Zirkus. Sie konnte wie eine römische Kaiserin die Hand heben und mich zerfleischen lassen, und die Gladiatoren würden dann auf dem mit meinem Blut getränkten Sand ihre Kämpfe austragen. Signore Cristoforo durfte das Tor ungehindert passieren. Ich folgte ihm beklommen. Sogar an den Türen wachte das grässliche Biest - das Erste, was ich sah, war das in eine Wand eingelassene steinerne Gesicht eines Löwen, der aus seinem Maul ein Seil ausspie, von dem sich die Arbeiter abschnitten, was sie brauchten. Ich starrte das klaffende Maul wie gebannt an. Einmal mehr war ich Daniel.
Von meiner Mutter wusste ich, dass die Sicherhheitsvorkehrungen hier äußerst streng waren, aber für Signore Cristoforo und mich wurden die Türen ohne Zögern geöffnet. Wir bedienten uns derselben Verkleidung, die es uns ermöglicht hatte, den Dogenpalast ungehindert zu verlassen. Ich hatte nur in das Gemach meiner Mutter schleichen und eine der für sie so typischen Masken entwenden müssen (ich sage so obenhin »nur«; in Wahrheit hatte ich mehr Angst davor, die Kammer meiner Mutter zu betreten als das Arsenale.) Dank unserer Ähnlichkeit brauchte ich sie nur anzulegen, und schon war ich sie. Insgeheim dankte ich meinem Schöpfer dafür, dass ich mich so bemüht hatte, ihre Sprache und ihr Benehmen nachzuahmen, um mein eigenes zu verbessern. Hoch erhobenen Hauptes rauschte ich die Gänge entlang, dabei hämmerte mein Herz vor Furcht, ihr durch irgendeinen dummen Zufall in die Arme zu laufen. Ich begegnete aber nur Marta, die gerade Kohlen holte, nickte ihr zu und ging weiter, ohne dass das Luder mich erkannte. Signore Cristoforo erwartete mich am Fuß der riesigen Treppe, und wir verließen den Palast, ohne Fragen beantworten zu müssen. Wenn die Dogaressa mit dem Lehrer ihrer Tochter das Arsenale besuchen wolle, war das allein ihre Sache. Wir eilten die Riva degli Schiavoni zu den Docks hinunter. Niemand bemerkte unser Täuschungsmanöver, denn inzwischen hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt, und alle Passanten auf der Straße hatten sich die Kapuzen tief in die Stirn gezogen.
In der Zitadelle des Arsenales wurde ich einmal mehr an die Nacht erinnert, in der Bruder Guido und ich in der alten Burg in Pisa auf die verborgene Schiffswerft gestoßen waren. Hier hing derselbe Geruch nach Teer, Holz und Leinen in der Luft. Ich folgte meinem Lehrer zu einer Seite des überdachten Hafens, wo Schmiede, Kalfaterer und Säger eifrig ihren jeweiligen Tätigkeiten nachgingen. Dies waren, wie ich wusste, die arsenalotti; ein summender menschlicher Bienenkorb, in dem meine Mutter die Rolle der Königin spielte. Ich sah den zum Leben erwachten Stato del Mar vor mir.
Signore Cristoforo ließ den Blick über die wimmelnde Menschenmasse schweifen, dann schoss seine Hand vor und packte einen vorübereilenden Mann am Arm. Der Bursche war klein und mager, hatte graues Haar, aber ein erstaunlich junges Gesicht, obwohl seine Haut vom Wetter gegerbt war. Seine Augenwinkel bogen sich leicht nach unten, was ihm einen kummervollen Ausdruck verlieh, doch als er seinen Häscher erkannte, verzogen sich seine Lippen zu einem überraschend strahlenden Lächeln, und ich sah, dass er keinen einzigen Zahn mehr im Mund hatte. Die beiden Männer schüttelten sich die Hand, umarmten sich wie Brüder und klopften sich gegenseitig auf den Rücken, und als der Fremde zu sprechen begann, wusste ich, dass ich einen Genueser vor mir hatte, denn er zog die Vokale genauso in die Länge wie mein Lehrer. Konnte das sein Bruder sein?
»Cristoforo, du alter Sack! Wie kommt es, dass sie dich aus Genua herausgelassen haben?«
»Dich haben sie doch auch nicht aufgehalten, oder?«, gab mein Lehrer grinsend zurück. »Ich hörte, sie wollen alle hässlichen Seeleute loswerden.«
»Dann muss es da unten aber ziemlich ruhig geworden sein.«
Das war ein alter Scherz, und ich lächelte höflich, bis mir einflel, dass niemand sehen konnte, was sich unter meiner Maske und Kapuze abspielte.
»Wie geht es Lisabetta?«
Der Fremde spie aus. »Sie zerrt an meinen Nerven und an meinem Geldbeutel.«
»Die Kinder?«
»Für die gilt dasselbe.« Aber es wurde liebevoll gesagt, was mir einen Stich versetzte. Ich begriff, dass ich diesen zahnlosen Seemann beneidete; er war verheiratet und hatte Kinder, die er liebte, genau wie mein Lehrer. Einen Moment lang kamen mir Bedenken, stand ich doch im Begriff, beide Männer in große Gefahr zu bringen.
»Und was ist mit dir? Unterrichtest
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