Das Geheimnis Des Frühlings
den Augen. »Ich bin eigentlich hier in Eurer Stadt, um Geld für eine solche Expedition zusammenzubringen.«
»Wirklich?« Allmählich wurde mir klar, warum er diesen bescheidenen Posten im Haus meines Vaters angenommen hatte und weit entfernt von allem, was er liebte, ein junges Mädchen unterrichtete.
»O ja. Ich hoffe, dass Euer Vater mich finanziell unterstützt. Eines Tages werden Männer über die bislang bekannten Grenzen der Welt hinwegsegeln und noch weitere neue Welten entdecken.«
Mir würde es reichen, bis Marghera zu segeln und nicht weiter. Ich würde von Herzen gern nie wieder eine Reise unternehmen, wenn ich nur Bruder Guido wiedersehen könnte. Aber ich hielt es für ratsam, meinem Lehrer jetzt eine Frage zu stellen, damit er keinen Verdacht schöpfte. Allerdings bezog sich die Frage indirekt sehr wohl auf meine Pläne. »Welcher Wind herrscht zurzeit vor?«
»Zephyr, der Westwind.« Signore Cristoforo lächelte. »Hier
gewinnt die Mythologie die Oberhand über die Wissenschaft. Früher glaubte man, Zephyr, der Bruder des Nordwindes Boreas, hätte sich in die Nymphe Chloris verliebt. Diese Nymphe verwandelte sich daraufhin in Flora, die Göttin, der die Frühlingsblumen zugeordnet werden.«
Ich schwieg dazu, denn ich brachte nicht die Kraft auf, ihm zu gestehen, dass ich weit mehr über Flora und Chloris wusste, als mir lieb war. »Zephyr tat Chloris Gewalt an, und sie gebar die Pferde Xantus und Brutus, die später in den Besitz des Achilles übergingen. Daher spricht man auch von Windrössern.«
Mir fiel plötzlich ein, dass Bruder Guido die blaue Figur in der Primavera einmal Zephyr genannt hatte, und jetzt wusste ich auch, warum. Er stand im Begriff, Chloris zu schänden, die sich daraufhin Hilfe suchend an Flora wandte - an mich. Ich schnaubte leise durch die Nase. Ich würde eher sterben, als ihr zu helfen. Meinetwegen konnten sich alle vier Winde meine Mutter abwechselnd vornehmen, wenn sie wollten, sogar von hinten, ohne dass ich mich darum scheren würde. Im Gegenteil, ich würde die Frau sogar noch festhalten, damit sie sich nicht wehren konnte.
»Aber ich schweife vom Thema ab.«
(Genau wie ich.)
»Zur jetzigen Zeit, Mitte Februar, weht vornehmlich der Zephyr. Er kündigt den Frühling an, der in einem Monat anbrechen wird.«
Ich ertrug es nicht, ihm noch länger zuzuhören. Später kam ich zu dem Schluss, dass es die Erwähnung des Februars - des Monats von Mariä Lichtmess, dem Zeitpunkt, für den sein Prozess angesetzt war - gewesen sein musste, die mir die Erinnerung an Bruder Guido so scharf und schmerzhaft zurückgebracht hatte. Nun weiß ich, dass ihr, die ihr ja Zeugen meines Unterrichts bei Signore Cristoforo wart, nur den Kopf schütteln werdet. Dummes kleines Ding, werdet ihr spotten. Sie hat an diesem Tag so viele Antworten bekommen. Warum hat sie
nicht zugehört, warum war sie so taub? Aber ihr dürft nicht vergessen, dass ich damals nur von einem einzigen Gedanken beherrscht wurde. Ich sah nicht, dass meine Fragen beantwortet, eine Tür geöffnet, ein Code entschlüsselt worden war. Ich packte Signore Cristoforo am Arm; das erste Mal, dass ich ihn berührte, und es war beileibe keine Liebkosung. Er hielt überrascht inne.
»Ihr müsst mir helfen.« Ich bedachte ihn mit meinem flehendsten Blick. »Jemand, den ich liebe, steckt in großen Schwierigkeiten. Er schwebt in Lebensgefahr, und ich werde und muss alles tun, um ihn zu retten.« Ich holte tief Atem und verlieh meinen nächsten Worten einen bedeutungsschwangeren Unterton. » Meine Filipa. Mein Diego .«
Er sah mich lange an, dann seufzte er. »Was kann ich für Euch tun?«
4
Ich fand mich in einer Burg voller Löwen, einem von wilden Raubtieren bewachten Hafen wieder. Zwar war ich im Rahmen eines der lehrreichen kleinen Ausflüge mit meiner Mutter schon einmal im Arsenale gewesen, hatte aber der Kreatur, die diese Stadt beherrschte, wenig Beachtung geschenkt. Nun, wo ich meine Flucht plante, begegnete ich ihr überall; erst jetzt, da ich mich aus ihren blutigen Krallen befreien wollte, wurde ich gewahr, dass der Löwe des heiligen Markus diese Zitadelle eifersüchtig hütete, überall gegenwärtig war - und nirgends stärker als hier. Die großen steinernen Bestien kauerten neben den Eisentoren dieser Festung aus blutrotem Stein, deren weiße Zinnen scharfen Zähnen glichen. Es waren die Geschöpfe meiner Mutter - Abkömmlinge der Löwin, die sie gesäugt hatte. Wenn ich durch dieses Tor schritt, betrat
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