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Das Geheimnis Des Frühlings

Das Geheimnis Des Frühlings

Titel: Das Geheimnis Des Frühlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Fiorato
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noch gar nicht gesehen. Wir haben ihn Diego genannt.« Seine Augen wurden glasig, Tränen schimmerten darin, und in mir stieg heiße Scham auf. Ich war so in meine eigene Tragödie versunken gewesen, dass es mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen war, mich zu fragen,
wieso ein junger Mann so weit entfernt von seiner Familie lebte. »Nun.« Er hatte seine Fassung wiedergewonnen und fuhr mit seinen Ausführungen fort. »Schauen wir doch einmal, ob Ihr die Richtungen zwischen Nord und Ost benennen könnt.«
    Mist. Meine Gedanken kreisten um alles, nur nicht um seinen Unterricht, aber das schien mein Lehrer nicht zu bemerken. Er hob das Astrolabium, die Kompasszeichnung rollte sich auf, und ich war auf mich allein gestellt. Nach dem Norden geriet ich ins Stocken, doch Signore Cristoforo führte mich mit sanftem Nachdruck von einer Himmelsrichtung zur nächsten. Wenn man ein Viertel komplettiert hatte, ging der Rest wie von selbst, stellte ich fest, als ich triumphierend zum Ende kam.
    »Nordnordwest, Nord zu West, Nord.«
    »Sehr gut.« Er schlug seine trockenen Pratzen gegeneinander. »Ihr habt den Kompass geschlagen.«
    »Ich habe was?«
    »Ihr habt alle zweiunddreißig Kompasspunkte der Reihe nach aufgezählt - das ist ein wesentlicher Bestandteil der seemännischen Ausbildung.« Er sah mich an wie ein stolzer Vater, und prompt musste ich an einen anderen denken, der mich genauso anerkennend gemustert hatte.
    »Kommen wir jetzt zum nächsten wichtigen Punkt: den Winden.« Er entrollte eine andere Karte und beschwerte die Ecken.

    »Das ist die Windrose. Sie ist sehr viel älter als die Kompassrose und schon seit dem Altertum in Gebrauch. Während der Kompass auf den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert, ist die Windrose eher klassischen Ursprungs; sie beruht auf alten Mythen und Legenden und seemännischem Aberglauben. Merkwürdigerweise sind beide aber äußerst zuverlässig. Die vier Rösser des Äther, wie man sie nennt, sind klassischerweise als Boreas, der Nordwind, Eurus der Ostwind, Notus der Südwind und Zephyr der Westwind bekannt. Die Windrose wird im Mittelmeerraum immer noch eingesetzt, und da wir diese Meere beherrschen, haben unsere Seeleute den Windrichtungen Namen gegeben, die unserem modernen Dialekt eher entsprechen. Norden wird zu Tramontana, der über die Berge kommt, und durch eine Lilie dargestellt. Der Ostwind, der Levante, wird durch ein Malteserkreuz gekennzeichnet, weil in dieser Richtung die heilige Stadt Jerusalem liegt. Ihr seht, dass die anderen Richtungen auch moderne Namen tragen - neben Tramontana haben wir Greco, Levante, Scirocco, Ostro, Africus, Ponente für den Westen und Maestro...«
    Doch ich hörte schon gar nicht mehr zu und konnte nur hoffen, dass er mich hierüber nicht auch abfragen würde. Wer auch immer mich nach Marghera übersetzte, würde sich sicherlich mit diesen Dingen auskennen und nicht auf die Hilfe seines Fahrgastes angewiesen sein.
    »Mit den Winden und den Kompasspunkten als Orientierungsmittel ist es den Seeleuten der heutigen Zeit gelungen, bislang unbekannte Welten zu erforschen. Die Windrose und die Kompassrose, diese beiden simplen Darstellungen hier, haben es Venedig ermöglicht, zu einer herausragenden Seehandelsmacht aufzusteigen. Ich nehme an, Ihr habt schon einmal von Marco Polo gehört?«
    Meine Mutter hatte mir auf unseren Ausflügen in der Tat ein wenig über ihn erzählt, aber ich wollte nichts mehr über diesen Mann hören, also nickte ich nur stumm. Aber genau wie
Bruder Guido wusste auch Signore Cristoforo immer sofort, wenn ich schwindelte.
    »Nachdem er ein Vierteljahrhundert den Osten bereist hatte und dabei bis Peking gekommen war, kehrte er nach Hause zurück. Seine Familie erkannte ihn zunächst nicht, da er grobe Tartarenkleidung trug. Doch dann öffnete er seine Tunika, aus der sich ein Strom von Diamanten und anderen kostbaren Steinen ergoss. Den Rest seiner Tage verbrachte er damit, seine Reiseerlebnisse detailliert niederzuschreiben, klagte aber noch auf dem Totenbett darüber, dass er nicht einmal die Hälfte von allem, was er gesehen hatte, zu Papier habe bringen können.«
    Ich unterdrückte ein Gähnen, denn ich hatte ja, wie gesagt, in der Nacht kein Auge zugetan. Aber der Gedanke an unerschöpfliche Edelsteinschätze gefiel mir.
    »Er hat den Anfang gemacht. Aber dort draußen gibt es noch mehr Neuland, das andere Staaten für sich beanspruchen können. Viel mehr«, bekannte er mit einem abwesenden Ausdruck in

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