Das Geheimnis Des Frühlings
zogen uns in den Bibliotheksturm des Palazzo zurück, einen schönen Raum mit vier Glasfenstern, die zu den vier Himmelsrichtungen hinausgingen. An den Wänden zogen sich Bücherregale entlang. Signore Silvio schien ganz offensichtlich genauso in das Lesen vernarrt zu sein wie sein Neffe. Ich hatte noch nie so viele Bücher auf einem Haufen gesehen. Wir drängten uns wie drei Generäle, die eine Landkarte studieren, um den gut beleuchteten Lesetisch in der Mitte des Raums. Signore Silvio betrachtete lange das Bild, ehe er das Wort ergriff. Seine Miene verriet nicht, was in ihm vorging. Mit dem linken Daumen trommelte er auf dem Tisch herum. Dieser Finger war mit einem goldenen, mit neun Goldkugeln besetzten Ring geschmückt. In meinem Kopf begann es zu rauschen. Ich hätte am liebsten laut geschrien, als er endlich zu sprechen begann.
»Es ist wirklich wunderschön. Sie haben nicht übertrieben.« Und dann fuhr er hastig fort: »Ich habe von Botticellis Werk gehört, es aber noch nie gesehen. Und Ihr habt dies hier gestohlen, Signorina? Dem Burschen direkt unter der Nase weg?«
Ich ließ betreten den Kopf hängen, aber Signore Silvio lächelte. »Ich kann Euch nicht tadeln, nachdem ich es gesehen habe. Jeder würde etwas so Schönes besitzen wollen.«
»Andere sind gleichfalls hinter diesem Bild her«, unterbrach Bruder Guido grimmig. »Wir wurden durch ganz Florenz gejagt und werden vielleicht immer noch verfolgt. Unsere beiden engsten Freunde wurden deswegen getötet, außerdem einer von Lucianas... Kunden.« An dem letzten Wort verschluckte er sich fast.
Jetzt runzelte Signore Silvio die Stirn. »Aber sie haben doch das Original. Das Gemälde befindet sich noch im Besitz des Malers, dies ist ja nur der cartone, nicht wahr?«
Bruder Guido nickte. Sein Schatten im Kerzenschein nickte ebenfalls. »Ja. Aber wir fürchten, Onkel, dass sie nicht nur auf die Rückgabe dieser Miniatur aus sind. Wir sind sicher, dass dieses Bild eine verborgene Botschaft enthält. Unsere Verfolger glauben, dass wir wissen, wie diese Botschaft lautet, und wollen uns aus Furcht vor diesem Wissen vernichten.«
»Es sieht in der Tat aus wie eine Art von Allegorie«, stimmte sein Onkel zu. »Vielleicht... Ich würde zuerst an Polizianos Stanze denken.«
Madonna. Nicht auch noch er.
»Daran dachte ich auch«, warf Bruder Guido eifrig ein. »Aber es scheint da noch eine tiefere politische Bedeutung zu geben. Botticelli erlitt einen regelrechten Wutanfall, als Luciana die Namen Pisa, Neapel und Genua in einem Atemzug aufzählte.«
»Pisa, Neapel und Genua?« Signore Silvio heftete den Blick auf mich, aber diesmal nicht lüstern, sondern nachdenklich. »Das sind alles große Seehandelsstaaten.«
»Ganz genau. Wir glauben, dass diese drei Grazien hier nicht Sinnbilder für irgendwelche Göttinnen sind, sondern für diese drei Städte.«
Signore Silvio betrachtete das Bild genauer. »Und welche Figur verkörpert dieser Theorie zufolge Pisa?«
Bruder Guido deutete auf die mittlere Grazie. »Hier, diese. Die verschlungenen Hände der Mädchen formen exakt die Umrisse unseres schiefen Turmes.«
Signore Silvio zuckte die Achseln. »Zugegebenermaßen ein interessanter Zufall, aber mehr auch nicht.«
»Und außerdem zielt der Amor mit seinem Pfeil genau auf ihren Kopf. Das heißt, dass wir hier in Pisa mit unseren Nachforschungen beginnen müssen.«
Jetzt musterte der Padrone seinen Neffen. »Nachforschungen?«
»Ja. Wir müssen die Bedeutung des Gemäldes entschlüsseln. Drei der Figuren stehen für Städte. Was ist mit den anderen?
Wir sind auf ein Geheimnis gestoßen, Zio , und irgendjemand will verhindern, dass wir es jemandem offenbaren.«
Nun geschah etwas wirklich Merkwürdiges. Signore Silvio brach in eine so laute Salve unechten Gelächters aus, dass sie von den Wänden des Bibliotheksturms widerhallte. Aber einen Moment vor diesem Heiterkeitsausbruch hatte ich noch etwas anderes in seinem Blick gelesen.
Angst. Nackte Angst.
Wir warteten, bis er sich wieder beruhigt hatte, und dann klopfte er uns beiden auf die Schulter, als wären wir Trinkkumpane. »Unsinn«, sagte er noch immer lachend. »Hier liegt kein Geheimnis verborgen. Das sind die drei tanzenden Grazien aus der klassischen Mythologie, weiter nichts. Ihr müsst diese Sache auf sich beruhen lassen und euer Leben wieder aufnehmen. Ich weiß eine viel bessere Lösung als diesen ziellosen Versuch, zum Mittelpunkt eines Labyrinths aus Hirngespinsten zu gelangen, in dem ihr
Weitere Kostenlose Bücher