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Das Geheimnis Des Frühlings

Das Geheimnis Des Frühlings

Titel: Das Geheimnis Des Frühlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Fiorato
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zwischen einer nichtsnutzigen Hure und einem unbesetzten Stuhl und starrte ins Leere, weil sein Sohn ihn mit seiner Abwesenheit demütigte, während sein geliebter Neffe für ihn als Erbe verloren war. Ich drückte seine Hand und begann
dann die Speisenfolge zu loben. Er sollte den Abend so gut wie möglich genießen.
    Und es gab viel zu loben, ich musste ihm nichts vormachen. Jeder Gang, der aufgetragen wurde, übertraf den vorherigen. Ich stopfte mich voller Wonne mit Hasenhoden, die so klein und zart waren, dass man sie im Ganzen schlucken konnte, und frisch gefangenen lipioti voll, kleinen Tintenfischen mit zwei messerscharfen Vorderzähnen, die man vor dem Essen tunlichst entfernen sollte. Danach kamen die Fleischgerichte: kleine Hirsche und riesige Eber, die geröstet und wieder in ihre Haut eingenäht worden waren und mit glasigen Augen auf diejenigen starrten, die sich um sie scharten, um sie zu verspeisen. Es gab sogar einen gekochten Pfau, an dem man seine prächtigen Schwanzfedern wieder befestigt hatte. Ich aϐ, bis mein Kleid aus den Nähten zu platzen drohte, trank herzhaft, scherzte mit Signore Silvio und amüsierte mich großartig.
    Bruder Guido aϐ nichts, wie mir auffiel, und trank nur Wasser, denn er beabsichtigte zu fasten. Eine Platte mit Austern, die, wie er mir unterwegs verraten hatte, seine Leibspeise waren, wurde vor mich hingestellt, damit wir drei sie uns teilen konnten. Nun esse ich niemals Austern - fragt mich nicht, warum nicht, ich glaube, es hängt zum Teil damit zusammen, dass sie Perlen produzieren wie jene, die ich in meinem Nabel trage, und zum Teil, weil sie mich an den Geschmack männlichen Samens erinnern, den ich in meinem Gewerbe oft genug schlucken muss, da kann ich in meiner Freizeit dankend darauf verzichten. Ich schob Bruder Guido die goldene Platte hin. »Greift zu«, drängte ich. »Euer Leibgericht.«
    Er sah mich an, als wäre ich der Teufel persönlich, der ihn in Versuchung führen wollte, presste die vollen Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und schüttelte seine dunklen Locken. »Nein«, sagte er. »Ich faste zu Ehren des heiligen Ranieri, der mich dazu gebracht hat, meine wahre Berufung zu erkennen.«
    »Austern zählen doch sicher nicht. Sie sind fleischlose Kost.«
    Wieder schüttelte er den Kopf. »Morgen ab Tagesanbruch darf ich wieder essen, aber nicht, bevor der Tag des Heiligen vorüber ist.«
    Ich zuckte die Achseln und schob die Platte zu seinem Onkel hinüber, denn ich wollte nicht, dass der rechtschaffene Mönch grundlos Qualen litt, egal was ihr von mir haltet. Aber dabei kippte ich ein paar der knubbeligen Schalen in meinen Schoß und verbarg sie in meinem schürzenähnlichen Überrock. Er durfte bis zum Morgen nichts essen? Nun, dann würde ich ihm ein halbes Dutzend zum Frühstück aufheben. Sein Onkel griff derweilen herzhaft zu. Die Vorliebe für diese hässlichen Schalentiere musste in der Familie liegen.
    Nach den Austern kamen die Süßspeisen, und ich machte mich begeistert über Schaumgebäck, Marzipan und kleine Pasteten aus dem Orient her. Und dann kam der Höhepunkt des Festes: Zwei Diener trugen eine exakte Nachbildung des schiefen Turmes aus weißem Zuckerwerk herein. Sogar der Glockenturm auf der Spitze fehlte nicht. Das Kunstwerk wurde auf den Tisch gestellt, wo er genau denselben Neigungsgrad aufwies wie sein großer Bruder, was jubelnden Beifall seitens der Gäste hervorrief. Bruder Guido und ich wechselten einen Blick. Der Anblick des Turmes, die Erinnerung an die Umrisse, die Botticellis Grazien mit den Händen formten, rief uns wieder ins Gedächtnis, dass bald die Stunde kam, da wir unser Wissen mit jemandem teilen mussten. Nicht einmal die Gegenwart von Tok, der sich an der Seite seines Herrn hielt, konnte verhindern, dass ich zu frösteln begann. Der Zuckerturm wurde zerlegt und verspeist, und wieder wurde wie schon den ganzen Abend lang ein Teller vor den leeren Stuhl auf den Tisch gestellt, als säße dort ein unsichtbarer Gast. Die Delikatessen begannen sich dort zu türmen wie schmutziges Geschirr in einer Spülküche. Bruder Guido zu meiner anderen Seite wies die Speisen auch weiterhin zurück. Ich bewunderte seine Standhaftigkeit angesichts solcher Köstlichkeiten, andererseits wurde mir schmerzhaft bewusst, dass Guido della Torre in
einem Jahr seine endgültigen Gelübde ablegen und dann für mich auf ewig verloren sein würde.
    Endlich hatte sich der letzte Gast verabschiedet, und die beiden della Torres und ich

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