Das Geheimnis Des Frühlings
saß in einer Loge und sah aus wie Guinevere.«
»Wie wer?«
»Nicht weiter wichtig.« Er war in seine Gedanken versunken. »Sie war so schön wie der junge Tag. Guilianos Mätresse, Simonetta Cattaneo.«
Ich zuckte zusammen. »Die Perle von Genua?«
Jetzt hob er mit einem Ruck den Kopf. »Ihr wusstet, dass man sie so nennt?«
Ich lachte. »Und ob. Bembo hat mit ihr geworben, wenn er seine Perlen verhökern wollte. >Seht her, meine Dame‹«, ahmte ich meinen verstorbenen Freier nach, »>es gibt nur eine Perle, die noch schöner ist als diese hier, und das ist Simonetta Cattaneo, die Perle von Genua.< Ich erinnere mich so gut daran, weil er sich einen neuen Werbespruch ausdenken musste, als sie an der Schwindsucht starb.«
Ich lächelte eingedenk der Eigentümlichkeiten meines früheren Liebhabers, blickte dann aber auf, weil ich fürchtete, Bruder Guido würde meine freimütige Ausdrucksweise missfallen. Doch er war zu aufgeregt, um eine diesbezügliche Bemerkung zu machen, falls er meine Worte überhaupt gehört hatte.
»Es ergibt alles einen Sinn! Zuerst dachte ich, die Grazien würden Weiß tragen, weil sie... Jungfrauen sind...« Er verschluckte sich fast an dem Wort. »Im vestalischen Sinne, meine ich.« Ich zuckte die Achseln. »Aber jetzt glaube ich, dass sie verstorben sind. Ihr hattet recht mit dem Engelsflügel. Die rechte und die linke Grazie waren real existierende Frauen, die inzwischen tot sind.«
»Gut«, meinte ich. »Also wissen wir jetzt, dass die linke Grazie für Genua steht, weil sie ein Porträt von Simonetta Cattaneo ist.«
»Nachdem ich mir ihr Gesicht genauer angesehen habe, bin ich ganz sicher.«
»Und seht nur! Sie trägt eine Perle auf der Stirn! Ein eindeutigeres Zeichen gibt es gar nicht.«
»Richtig. Eine so große habe ich noch nie gesehen. Das wäre also geklärt.«
Ich erwog, ihm meinen Bauchnabel zu zeigen, entschied mich aber dagegen, um unsere wachsende Freundschaft nicht zu gefährden.
»Also gut«, fuhr ich fort. »Wenn sie Genua darstellt und wir nach Neapel segeln, dann ist sie die letzte Figur von allen, nicht die erste.«
»Ganz genau. Jetzt wissen wir wenigstens, wo die Jagd endet.«
Ich wagte gar nicht, an die lange Reise zu denken, die vor uns lag - den ganzen Weg zum unbekannten Genua am anderen Ende unserer großen Halbinsel. »Wir wissen demnach ein wenig über die Figur Genua«, spann ich den Faden weiter. »Aber absolut nichts über Neapel, wo wir an Land gehen werden.«
»Da habt Ihr abermals recht«, stimmte Bruder Guido zu. Seine Freude über unseren jüngsten Triumph verflog. »Dann wollen wir uns auf Neapel konzentrieren. Fassen wir zusammen: Sie ist tot, sie trägt Schmuck im Haar, und sie ist... einfach makellos.«
Ich zuckte die Achseln. »Es geht.«
Er lächelte. »Man könnte sogar sagen, sie ist die Strahlendste von allen.«
Jetzt begann ich mich zu ärgern. »Diese fade Milchsuppe? Seid Ihr blind?« Jeder Idiot konnte sehen, dass ich viel besser aussah.
Bruder Guidos Lächeln wurde breiter. »Ich meinte nur, dass sie auffallend hell häutig ist. Viel heller als die beiden anderen Mädchen.«
»Oh. Verstehe.« Ich verwünschte mich für meinen Ausbruch. »Und viel blonder.«
»Unser Hinweis ist also ein blondes, weißhäutiges, totes Mädchen, das irgendwie mit Neapel in Verbindung steht. Hmm.«
Bruder Guido wirkte mit einem Mal verwirrt und begann sich erneut den Nacken zu reiben. Er sah so niedergeschlagen aus, dass ich versuchte, ihn aufzumuntern. »Fällt das nicht in Euer Fachgebiet - Bücher?«
Doch nicht einmal das hob seine Stimmung. Er lächelte schwach. »Ich bin mir nicht sicher, ob mir das in diesem Fall weiterhilft. Eure aus dem bloßen Studium der Primavera gezogenen Schlussfolgerungen sind viel mehr wert.«
Das war ein großes Kompliment, das zurückgegeben werden sollte. »Aber ich würde wirklich gerne hören, was Euch dazu einfällt.«
Er stützte sich auf einen Ellbogen und streckte sich aus wie ein römischer Senator. Ich tat es ihm nach. Die Sonne sank, und ich kam mir vor wie ein Kind, das auf eine Gutenachtgeschichte wartet. »Die drei Grazien sind ein bekanntes klassisches Thema antiker Texte. Bei Horaz, Hesiod und Seneca kommen sie als Agaia, Euphrosyne und Thalia vor. Das waren drei Schwestern, die für gegenseitigen Nutzen stehen, denn eine Schwester gibt, die nächste nimmt, und die dritte erwidert die Gunst.«
»Dann«, unterbrach ich, »ist die Idee eines Bündnisses gar
nicht so dumm. Warum sonst
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