Das Geheimnis Des Frühlings
vollsog, schwarz und schwer wurde und ihn in die Tiefe zu ziehen drohte. Bald wurden unsere Köpfe gegen das Gitter gepresst. Das Wasser stieg immer noch, während wir nach Luft rangen. Das Bild würde gerettet werden. Wir nicht. Unsere Gesichter wurden gegen das kalte Eisen und gegeneinander gedrückt. Als letzte Handlung in diesem Leben presste ich meine kalten Lippen auf die von Bruder Guido,
weil ich nicht sterben wollte, ohne ihm gezeigt zu haben, dass ich ihn liebte.
Im selben Moment geschahen drei Dinge zur gleichen Zeit.
Cosa uno: Das kalte Eisen löste sich von unseren Gesichtern, weil das Gitter angehoben wurde.
Cosa due: Unsichtbare Hände zogen uns auf das sturmgepeitschte Deck.
Cosa tre: Bruder Guido erwiderte meinen Kuss. Voller Glut.
Ehe ich Zeit hatte, über dieses dreifache Wunder nachzudenken, wurde ich nach vorne gezerrt oder nach unten, ich wusste es nicht. Ich klammerte mich an Bruder Guido fest, weil ich wegen der beißenden Gischt die Augen nicht zu öffnen vermochte. Dann spürte ich, wie ich über die Wand des Schiffes gehoben wurde - wir würden doch nicht etwa um unser Leben schwimmen müssen? Aber nein, unter meinen tauben Füßen fühlte ich festen Boden. Das sinkende, auf seiner Jungfernfahrt dem Untergang geweihte Schiff schützte uns vor Wind und Gischt, und jetzt sah ich, dass ich mich zusammen mit Bruder Guido und dem Kapitän in einem Beiboot befand. Alle anderen Seelen an Bord waren verloren, wie es schien, und wir in dieser Nussschale vermutlich auch. Doch dann griffen die Männer nach den Rudern und brachten uns weg von dem Wrack, während ich wie eine Galionsfigur im Bug kauerte. Wir lösten uns aus dem Windschatten des Schiffs, und ich blickte dem Sturm ins Auge. Madonna. Mein Haar peitschte mir ins Gesicht wie die Schlangen der Medusa und starrte vor Salz. Aber ich registrierte voller Stolz, dass Bruder Guido das Ruder mindestens ebenso kraftvoll und geschickt handhabte wie der Kapitän und überlegte, dass selbst der schlechteste pisanische Seemann die besten Männer anderer Staaten übertreffen musste. Ich hielt mich an der Seitenwand des Bootes fest, bis meine Muskeln schmerzten, während wir zum Kamm turmhoher Wellen emporgetragen wurden und dann wieder in die schwarzen Tiefen sanken wie Verdammte in den Schlund der Hölle. Blitze zuckten über den Himmel. Es sah aus, als
würde ein schwarzer Vorhang kurz aufgezogen und gäbe den Blick auf das Paradies frei, das uns im nächsten Moment wieder entzogen wurde. Der Wind peitschte mir ins Gesicht. Ich drehte mich um und sah gerade noch, wie das Flaggschiff der Muda von den tosenden Fluten verschlungen wurde. Der Mast versank im Wasser, die Flagge Pisas flatterte noch ein letztes Mal, dann war sie verschwunden.
Ich rollte mich erschöpft auf dem Boden des Bootes zusammen. Mich kümmerte nicht mehr, was noch kommen würde. Mein Bewusstsein schwand. Das Letzte, was ich spürte, war die Erinnerung von Bruder Guidos Lippen auf den meinen.
Warmer Sonnenschein weckte mich. Der blaue Himmel spiegelte sich im glatten Meer. Rings um das Boot trieben zersplitterte Schiffsplanken und zerfetzte Kleidungsstücke.
Meine beiden Ruderer hingen schlaff auf ihren Bänken. Zum zweiten Mal innerhalb eines Tages fürchtete ich, mein Freund könne nicht mehr am Leben sein. Mein Herzschlag beschleunigte sich - aber nein, Bruder Guido hob eine Hand, um eine lästige Fliege wegzuscheuchen, dann sank er wieder in sich zusammen. Schlief weiter. Vollkommen erschöpft. Der Kapitän hingegen lag mit geöffnetem, blutigem Mund da und zeigte kein Lebenszeichen mehr.
Hmm.
So traf Principessa Chi-Chi in den südlichen Königreichen ein - in einem kleinen Boot mit zwei Männern. Beide bärtig, mit Schrammen und Prellungen übersät und blutbeschmiert. Einer so hässlich wie die Nacht dunkel und tot wie ein Freitagsfisch. Der andere so schön wie der junge Tag und Gott sei Dank am Leben. Als hätte der dahingeschiedene Kapitän meine Wünsche berücksichtigen wollen, war mein linker Fuß mit einem Eisenring und einer Kette an Bruder Guidos rechten gefesselt. Ich erwog, den Leichnam nach dem Schlüssel zu durchsuchen, aber die Fessel störte mich eigentlich nicht, und warum sollte ich diese unangenehme Aufgabe übernehmen,
wenn ich darauf warten konnte, dass mein Freund aufwachte und sie mir abnahm? Ich betrachtete Bruder Guidos schlafendes Gesicht und weidete mich an seiner Schönheit. Die Erinnerung an die vergangene Nacht bewirkte, dass das Blut
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