Das Geheimnis des goldenen Salamanders (German Edition)
zwischen den Häusern grüne Felder sehen, auf denen Kühe weideten. Er ging am Wirtshaus auf der rechten Seite vorbei und blieb vor dem baufälligen Gebäude schräg gegenüber stehen. Ein qualvoller Schrei, der genau in diesem Augenblick aus dem Bau drang, ließ ihn erschaudern. Gleichzeitig wurde ihm übel, denn aus dem Graben neben ihm stieg ein unerträglicher Gestank auf. Jack hatte gehört, dass feine Herrschaften oft als Zeitvertreib die Anstalt besuchten, da Verrückte hier nicht nur aufbewahrt, sondern auch der Öffentlichkeit zur Schau gestellt wurden. Was daran so vergnüglich sein sollte, verstand der Junge allerdings nicht. Wiedererklang ein Schrei. Jack musste all seinen Mut zusammennehmen, um durchs Eingangstor zu treten.
»Einen Penny«, hielt ihn jedoch gleich darauf der Pförtner auf. Natürlich, wer die Wahnsinnigen sehen wollte, musste Eintritt bezahlen. Wie gut, dass er von der gestrigen Diebestour nicht die ganze Beute an Moll weitergegeben, sondern stattdessen für den Notfall wieder einige Münzen für sich behalten hatte. Er reichte dem Mann ein Geldstück.
»Die Stufen rechts hoch«, wies der Pförtner ihm den Weg. »Dort sind die Gefährlichen untergebracht. Die anderen dürfen sich tagsüber frei bewegen. Die sind überall.«
Um den Hof standen mehrere baufällige Gebäude. Dahinter konnte man das verwilderte Gestrüpp eines vernachlässigten Gartens erkennen. Auch der Hauptbau auf der rechten Seite hatte bessere Zeiten gesehen. Jack stieg die Stufen hoch, als erneut ein markerschütternder Schrei ertönte. Er hielt an der Schwelle kurz inne. Aus dem Halbdunkel drangen die schauerlichsten Geräusche: Etwas klirrte, eine gespenstische Frauenstimme sang ein Schlaflied, jemand laberte unverständliche Worte, jemand anderes stöhnte aufs Erbärmlichste. Jack nahm all seinen Mut zusammen und trat durch die offene Tür.
Zunächst sah er nichts als Dunkelheit. Erst als sich seine Augen ans Dämmerlicht gewöhnt hatten, konnte er den langen Gang erkennen, der sich vor ihm erstreckte. Auf einer Seite waren vergitterte Gucklöcher angebracht, durch die man vermutlich die Insassen beobachten konnte. Zaghaft näherte er sich. Ob Ned hier war? Durchs Gitterfenster konnte er schmutziges Stroh sehen, das auf dem Boden ausgebreitet war. Wieder stieg ihm dieser Gestank in die Nase, und er musste schlucken, um einen Würgereiz zu unterdrücken. An derWand gleich gegenüber lag ein Mann, nur mit einem schmutzigen langen Hemd bekleidet. Er war an Füßen und Händen mit schweren Ketten an die Mauer gefesselt. Im Stroh vor ihm lag verschimmeltes Brot. Ein anderer spindeldürrer Mann, in löchrigem Hemd und Hose, spazierte im Gang auf und ab. Er verbeugte sich vor Jack und ging weiter. Gleich darauf begann der Insasse in der Zelle laut zu schreien und mit seiner Kette zu rasseln. Ned war nirgends zu sehen. Auch in den anderen Zellen konnte er ihn nicht entdecken.
Währenddessen lief eine Frau im Gang hinter Jack hin und her. Sie trug einen geflickten Rock und ein verblichenes Schultertuch. In ihren verfilzten Haaren steckte Stroh. Vermutlich gehörte sie, wie der Mann im löchrigen Hemd, zu den Insassen, die sich tagsüber frei auf dem Gelände bewegen durften. Wenn sein Bruder hier war, würde sie es sicher wissen. Doch auf Jacks Frage hin schüttelte sie nur traurig den Kopf.
»Mein Mädchen haben sie auch gestohlen.« Sie zog ihr Tuch fester um die Schultern.
»Gestohlen?«, fragte Jack. »Wer hat Euer Mädchen gestohlen?«
»Na, die Geister. Die sind überall in der Stadt. Nimm dich in Acht, mein Junge, dass sie dich nicht auch holen.«
»Welche Geister?«
Da beugte sich die Frau vor, sodass ihr Gesicht ganz nah neben seinem war und er ihren schlechten Atem riechen konnte.
»Die Geister von London. Sie schlagen immer dann zu, wenn man es nicht erwartet. Ihre Opfer sind arglose Kinder. Sie locken sie in den Hinterhalt und ...« Die Frau hielt abrupt inne. Ihre wässrigen Augen schienen plötzlich leer und abwesend. Sie hockte sich auf den Boden und wiegte ihren Körper leise summend hin und her.
»Sie locken sie in den Hinterhalt und was?«, hakte Jack nach, doch die Frau blickte nur ausdruckslos vor sich hin.
»Jetzt hat es keinen Sinn mehr, der Dame weitere Fragen zu stellen«, sagte eine Stimme dicht hinter ihm. »Wenn sie zu summen beginnt, ist sie für die nächste Zeit geistig abwesend.«
Jack musterte den Sprecher. Es konnte sich weder um einen Insassen der Anstalt noch um einen der
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