Das Geheimnis des goldenen Salamanders (German Edition)
sie in einem luftleeren Raum und konnte kaum noch atmen. Zwar wusste sie, dass Onkel Humphrey in der Stadt angekommen war, doch wie er so schnell ermittelt hatte, wo sie war, verstand sie nicht. Wie war das möglich? Für einen kurzen Augenblick konnte man nur das Klappern der Fenster hören, gegen die der Sturm peitschte. Der dunkelgraue Himmel hinter den Butzenscheiben versprach nichts Gutes. Milton bewahrte Ruhe. Er strich sich nachdenklich mit Daumen und Zeigefinger über seinen kurzen Bart.
»Na gut. Lass ihn zu mir.« Die Frau nickte und schloss die Tür hinter sich.
Erst jetzt fand Alyss die Worte wieder.
»Bitte«, beschwor sie den Assistenten. »Empfangt ihn nicht, während ich bei Euch bin. Er würde mich nur seinem Häscher ausliefern, und Hatton Hall wäre verloren. Er darf mich auf keinen Fall hier sehen.«
»Nun reg dich nicht so auf«, beruhigte der Mann sie, während er aufstand und eine Tür öffnete, die zwischen den Regalen in ein Nebenzimmer führte. »Geh hier rein und sei still. Ich hol dich raus, wenn die Luft wieder rein ist.«
»Glauben Sie ihm kein Wort«, rief das Mädchen ihm hinterher, doch die Tür war bereits ins Schloss gefallen.
Alyss war in einer Seitenkammer der Bibliothek gelandet, in der noch mehr Regale voller Bücher standen. Aber sie hatte keine Zeit, sich umzusehen. Stattdessen kniete sie sich schleunigst neben die Tür, um heimlich durchs Schlüsselloch spähen zu können. Nur einen Augenblick später stand der Onkel im Raum.
»Wann ist Sir Christopher zurück? Ich muss unbedingt mit ihm sprechen.« Fast fühlte sie sich nach Hatton Hall zurückversetzt, als sie im Priesterloch das Gespräch zwischen ihrem Onkel und dem Fremden belauscht hatte.
»Das kann ich nicht genau sagen«, erwiderte der junge Mann, und mit einer kleinen Verbeugung fügte er hinzu: »Francis Milton, Sir Christophers Assistent. Vielleicht kann ich Euch behilflich sein.«
Gleich darauf begann der Onkel ein solches Lügenmärchen zu erzählen, dass Alyss kaum ihren Ohren traute. Alyss Sinclair, sein Mündel, hätte ihn bestohlen und sei von HattonHall ausgerissen. Und dann behauptete er doch tatsächlich, dass er sich um das Mädchen unermessliche Sorgen machte.
»Stellen Sie sich nur vor, eine Zwölfjährige allein in London. Unvorstellbar, was ihr in der großen Stadt alles geschehen könnte.« Dabei setzte er ein so kummervolles Gesicht auf, dass Alyss überzeugt war, der Assistent würde sie jeden Augenblick aus der Kammer zerren und dem Onkel ausliefern. Doch er lauschte nur schweigend dem Bericht.
»Überaus interessant«, meinte er schließlich. »Allerdings verstehe ich nicht, was Sir Christopher damit zu tun hat?« Er hatte sich auf den Lehnstuhl hinter dem Schreibtisch gesetzt und bot seinem Gast den Stuhl davor an. Doch Onkel Humphrey blieb stehen.
»Wir fanden einen Zettel mit Sir Christophers genauer Anschrift in ihrer Kammer. Da lag es für mich auf der Hand, dass sie hierher wollte.«
Der Zettel! Wie hatte Alyss nur so leichtsinnig sein können, ihn zu Hause zu lassen. Dabei hatte sie ihn so gut versteckt. Sie hätte sich eigentlich denken können, dass der Onkel ihr Zimmer durchwühlen würde. Kein Wunder, dass das Haus am Fluss Onkel Humphreys erste Anlaufstelle war.
»Falls sie hier auftauchen sollte«, fuhr der Onkel fort, »glaubt ihr kein Wort. Sie ist bekannt für ihre Lügengeschichten und würde Euch vermutlich auch nur Märchen auftischen.« Er hielt kurz inne. »Es wird Euch sicher interessieren, dass ich eine Belohnung für ihre Auffindung ausgesetzt habe.«
Francis Milton stand nachdenklich auf und schritt auf die Tür, hinter der Alyss kauerte, zu. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie blickte zum Fenster, das nicht wie die Fenster auf der Straßenseite vergittert war. Durch die Butzenscheiben konnte man die Themse und die Häuser am gegenüberliegenden Ufer sehen. Ein Sprung in den Fluss kam nicht infrage, denn sie konnte nicht schwimmen. Sie war den beiden Männern hilflos ausgeliefert.
»Und was hat sie gestohlen?« Milton hatte auf halbem Weg angehalten und sich wieder umgedreht, sodass Alyss vom Schlüsselloch aus nur noch seinen Rücken sehen konnte.
»Ein wertvolles Schmuckstück meiner Frau, einen kleinen goldenen Salamander«, erklärte Onkel Humphrey.
Dieser Lügner! Alyss war nahe daran, durch die Tür zu stürmen und sich auf den Onkel zu stürzen.
»Na gut«, hörte sie den Assistenten daraufhin. »Sobald Sir Christopher zurück in der Stadt ist,
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