Das Geheimnis des Himmels
etwas zeigen, wenn du mich einmal in meiner Giftküche besuchst. Denn auch ich habe eine kleine Schrift erhalten, die, wenn sich ihr Inhalt bewahrheiten sollte, ähnliche Folgen für unsere Welt haben kann … genau wie die lutherische Ketzerei.“
Bernhardi wurde ernst. „Ist das wahr?“
„Ja, so wahr ich lebe.“
„Ja, löst sich denn alles auf? Gibt es keinen festen Grund mehr für unser Wissen und Glauben?“
„Vielleicht sieht der Grund nur anders aus, als wir es uns immer vorgestellt haben.“
Tief ins Gespräch versunken, erreichten die beiden Kollegen das Haus der Familie Bernhardi. Leonhard hatte sich einen Moment lang gefragt, ob er Auerbach in das Geheimnis seines Fundes einweihen sollte. Aber dann hatte er beschlossen, es doch nicht zu tun. Auerbach war des Griechischen nicht mächtig, also konnte er ihm bei der Lösung des Rätsels nicht behilflich sein. Vielleicht war es sogar gut, wenn sein Kollege keine Ahnung von dem Text hätte, um ihn nicht auch noch einer Gefahr auszusetzen.
Als Bernhardi die Tür öffnete, wurde er fast von der Schar seiner Töchter umgerannt, die ihn stürmisch begrüßten. Es kam nicht oft vor, dass ihr Vater schon so früh zu Hause war. Lächelnd kam Elisabeth, mit der Kleinsten auf dem Arm, hinterher. Nach einem innigen Begrüßungskuss ergriff Elisabeth gewohnt souverän das Wort.
„Ah, Meister Auerbach! Schön, Euch nach so langer Zeit wieder bei uns begrüßen zu können. Welch eine Freude!“
Auerbach wurde verlegen und verbeugte sich höflich: „Ich muss Euch um Vergebung bitten. Die Einladung Eures Gatten erging so plötzlich, dass ich keine Gelegenheit mehr hatte, Euch, wie es sich ziemt, einen Strauß der jetzt blühenden Blumen zu überreichen. Wenn Ihr meine Abbitte annehmt, dann werde ich das Versäumte beim nächsten Mal mit besonderer Freude nachholen.“
„Es sei Euch gerne gewährt“, lachte Elisabeth laut auf.
„Hannes, bitte sorge für ein weiteres Gedeck. Wir haben heute lieben Besuch. Aber jetzt kommt in die gute Stube, dort erwartet uns ein erfrischender Trunk. Und nach dem Mahl erwarte ich mit Spannung, was ihr von den Ereignissen dieses Tages zu berichten habt.“
5
Trotz aller Warnungen nahm Bernhardi sich am nächsten Tag vor, die Ketzerschrift näher anzusehen. Womöglich verlangte ja Reinhardus, dass man sie an ihn auslieferte oder gar vernichtete. Für den kurzen Prozess, der mit den aufrührerischen Studenten gemacht worden war, hatte die kleine Schrift keine Rolle mehr gespielt.
Gleich nach seiner letzten Vorlesung über das zweite Buch der
Nikomachischen Ethik
hatte er seine Studenten, die ihn mit Fragen bestürmten, auf morgen vertröstet und zielstrebig den Heimweg angetreten. Elisabeth traf er zu Hause nicht an. Hannesinformierte ihn, sie mache einige Besorgungen und um die Töchter kümmere sich die Tante.
Nach einer ausgiebigen Begrüßung der fünf Mädchen zog sich Bernhardi in seine Arbeitsstube zurück. Er warf einen kurzen Blick aus dem Fenster in den Garten, doch dann ging er entschlossen auf die große Bücherwand zu und ergriff einen Band der Oden des Horaz, öffnete ihn und zog die kleine Freiheitsschrift heraus. Noch einmal ging er kurz zur Tür und vergewisserte sich, dass kein Unbefugter davorstand. Dann setzte er sich an seinen Arbeitstisch. Jetzt erst bemerkte er, dass in dem schmalen Band ein gefalteter Zettel lag. Behutsam entfaltete Bernhardi das schon etwas abgegriffene Papier. Sein Atem ging etwas schneller als gewöhnlich, als er die eng gedruckten Zeilen des lateinischen Traktes überflog. Die Überschrift lautete:
Disputatio contra scholasticam theologiam
. Disputation gegen die scholastische Theologie. Wie gut, dass Kollege Wenzel das nicht gesehen hat, es hätte wohl einen sehr ungesunden Zornesausbruch zur Folge gehabt, dachte sich Bernhardi. Mit blasser Handschrift war am Rande angefügt: M. Luther, AD 1517.
Nun habe ich ihn, triumphierte Bernhardi, nun werde ich in der Lage sein, diese Irrlehren aus ihren Quellen widerlegen zu können. Und er vertiefte sich in die Thesen des Buches.
Drei Stunden später klopfte es an der Tür zu seinem Arbeitszimmer. Bernhardi schrak auf. Blitzschnell zog er das Buch und das gefaltete Blatt unter sein riesiges griechisches Wörterbuch.
„Ja bitte?“
„Ich bin’s, Elisabeth. Störe ich?“
„Aber nein, komm doch herein!“
Elisabeth stand vor ihm, noch in ihrer Ausgehkleidung. „Ich bin wieder zurück und habe gehört, dass du schon zu Hause
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