Das Geheimnis des Himmels
bist.“
„Wenn ich dich sehe, frage ich mich, wieso ich überhaupt noch aus dem Haus gehe“, erwiderte Bernhardi charmant.
„Willst du, dass ich erröte wie ein junges Mädchen?“, lachte Elisabeth.
„Das wirst du schon nicht. Du weißt um deine Qualitäten.“
„Ist alles in Ordnung mit dir? Du bist zu so früher Stunde hier, Leo, was mich freut, aber – zugegebenermaßen – es ist ungewöhnlich.“
„Ja, allerdings. Und du findest mich in einem einigermaßen verwirrten Zustand.“
„Das ist ebenso ungewöhnlich. Möchtest du mit mir darüber sprechen?“
„Ich weiß nicht, ob ich es jetzt schon kann. Du erinnerst dich an die Verhaftungsaktion unseres Rektors, von der ich gestern berichtete?“
„Wie sollte ich das vergessen haben!“
„Heute habe ich zum ersten Mal einen Blick in das kleine Buch geworfen … Du weißt schon, die Schrift, die Wenzel aus einem Pult hervorgezogen hat.“ Bernhardi bemühte sich, ruhig zu formulieren.
„Auch daran erinnere ich mich“, gab Elisabeth mit fester Stimme zurück.
„In dem Buch, das ja bereits vor sieben Jahren erschienen ist, lag ein gedruckter Zettel mit Disputationsthesen des gleichen Autors, die er bereits drei Jahre früher veröffentlicht hat, und zwar ganz kurz vor der Veröffentlichung seiner 95 Ablassthesen. Ich werde gewiss noch einige Zeit brauchen, um alles zu erfassen, aber …“, Bernhardi zögerte kurz, doch dann fuhr er fort: „… aber ich muss bereits jetzt gestehen, dass diese Thesen sauber und logisch formuliert sind. Dieser Luther weiß, wovon er redet. Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass sich weder eine unserer Fakultäten noch die Universitäten von Köln oder Paris ernsthaft damit auseinandergesetzt haben. Ich gebe zu, das Verteilen von Ketzerhüten ist erheblich leichter, als auf solche grundsätzliche Kritik einzugehen und zu versuchen, siezu widerlegen. Selbst ich habe diesem Urteil vertraut. Nicht dass ich innerhalb weniger Stunden zum Anhänger Luthers mutiere – aber auf seine Angriffe gegen das alte theologische System gar nicht zu reagieren, war fahrlässig! Sein Buch
Von der Freiheit eines Christenmenschen
werde ich mir demnächst genauer ansehen. Es beginnt übrigens mit einer Widmung an Papst Leo X., es klingt also nach einem Versöhnungsangebot, da bin ich wirklich gespannt. Aber, meine liebe Liese, bin ich denn nun selbst ein Ketzer?“
Diese Frage wurde von ihm mit großer Ernsthaftigkeit gestellt. Elisabeth bemerkte das sofort.
„Wenn die aufrichtige Suche nach der Wahrheit Ketzerei sein soll, dann stimmt etwas nicht. Viel wichtiger scheint es mir für dich zu sein, wie du in der Öffentlichkeit, der du dich nicht entziehen kannst, weiter auftreten willst, ohne dich zu sehr zu verbiegen. Du erinnerst dich, wir sprachen bereits darüber.“
„Gewiss. Und du hast sicher wieder einmal recht. Ich werde also noch mehr als sonst darauf dringen, inhaltlich Rechenschaft über die Dinge zu geben, um die wir streiten. Mir ist aber auch klar, dass es schwer sein wird, über Dinge zu disputieren, die in den Augen von Kirche und Obrigkeit bereits als entschieden gelten. Aber genug davon. Wie war dein Tag, meine liebe Elisabeth?“
„Ausgefüllt mit all den Pflichten, die ein großer Haushalt mit sich bringt. Ich war auf dem Markt, wie du weißt, und habe dabei den Boten getroffen, der meine Anfrage nach Dr. Praetorius überbracht hatte und nun heimgekehrt ist. Der Weg scheint staubig gewesen zu sein, denn sein Durst war kaum zu stillen. In der Schenke hatte er sich schon mit einigen Kannen Einbecker Bieres versorgt. Er war aber noch in der Lage, mir eine Antwort zu übergeben.“
„Darf ich sehen?“, fragte Bernhardi eifrig.
„Der Brief ist an mich!“ Elisabeth antwortete nicht ohne Stolz.
„Verzeih, du hast natürlich recht.“
Elisabeth erbrach das kleine Wachssiegel und las ihrem Gatten den Inhalt vor.
„Gnade und Friede in Christo! Meine liebe Frau Elisabeth Bernhardi! Gerne bin ich unserer ehemaligen Schülerin und großzügigen Gönnerin unseres Stiftes bei ihrer Anfrage behilflich. Bezüglich des Dr. Praetorius muss ich Euch leider in Kenntnis setzen, dass unser hochverehrter Lehrer und Kollege vor drei Jahren vom Herrn abberufen worden ist. Vielleicht ist Euch die Anmerkung von Nutzen, dass einer seiner Söhne, Andreas Praetorius, hierselbst noch wohnt. Er ist Jurist und erteilt in der Nachfolge seines Vaters an unserer Anstalt einige Stunden Unterricht. Er ist sicherlich bereit,
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