Das Geheimnis Des Kalligraphen
dastand. »Komm zu mir, ich will dir was zeigen«, sagte Malik nun kaum hörbar, aber sie konnte von derTür aus alles so deutlich verstehen, als würde er ihr die Worte ins Ohr flüstern. Ihre Füße klebten jedoch am Boden, als hätten die Blicke der anderen sie mit Blei beschwert.
»Ich will allein sein«, hörte sie Malik seine Mutter bitten, die mit roten, geschwollenen Augen seine Hand hielt. Asmahan setzte sich auf die Bettkante, und als er die Hand nach ihr ausstreckte, blickte sie verlegen um sich. Da war das Zimmer bereits wie durch Zauberhand leergefegt.
»Ich habe etwas für dich geschrieben«, sagte er und holte aus dem kleinen Nachtschrank ein unbeholfen in Papier gewickeltes und mit einem dicken Faden umschnürtes rechteckiges Päckchen hervor. Asmahan löste mit zitternden Fingern die vielen festen Knoten der Verpackung und zerriss vor Ungeduld das Papier. Eine kleine gerahmte Kalligraphie kam zum Vorschein. Sie sah sehr kompliziert und wie eine Rose aus.
»Wenn du das lesen kannst, wirst du an mich denken«, sagte Malik nach Luft ringend.
»Liebe ist die einzige Krankheit, von der ich nicht geheilt werden will«, konnte sie – ein halbes Jahr später – entziffern. Der kleine umrahmte Spruch begleitete sie ihr Leben lang wie eine Ikone.
Zwei Tage nach ihrem Besuch im Krankenhaus wachte sie nach einem Alptraum in der Morgendämmerung auf. Sie hörte jemanden nach ihr rufen, lief aus ihrem Zimmer auf die kleine Terrasse, doch ihre Eltern und die drei jüngeren Brüder schliefen noch auf der anderen Seite in ihren Zimmern.
Erst später sollte Asmahan von Maliks Schwester, die alle Nächte auf dem Boden neben seinem Bett geschlafen hatte, erfahren, dass Malik in jener Morgenstunde, als er starb, laut ihren Namen gerufen hatte.
Malik war nicht einmal zwanzig, Asmahan gerade fünfzehn Jahre alt. Eine Woche später wurde sie von einem Fieber heimgesucht und verlor das Bewusstsein. Als sie zu sich kam, wusste ihre Mutter bereits die ganze Geschichte mit Malik. Wie sie davon erfahren hatte, blieb ihr Geheimnis. Sie tröstete Asmahan und fragte, ob bei ihr »unten« alles in Ordnung sei, und sie war sichtlich erleichtert, als sie erfuhr, dass Asmahan noch Jungfrau war.
Asmahan schwor sich, niemanden mehr zu lieben. Sie erklärte ihr Herz für tot und ahnte nicht, dass Herzen keinen Verstand haben, um eine Erklärung zu begreifen.
Die Blicke der Männer, die ihr sehnsüchtig entgegenfieberten, je erwachsener und weiblicher sie wurde, ließen sie kalt.
»Was heißt erst fünfzehn? Sie hat in Sachen Liebe mehr Erfahrung als ich. Sie braucht dringend einen Mann«, sagte die Mutter am selben Abend zu Asmahans Vater.
Asmahan heiratete ein Jahr später ihren zehn Jahre älteren Cousin, einen grobschlächtigen, derben Chirurgen, der als Gerichtsmediziner mehr von Leichen als von lebenden Körpern und Seelen verstand.
Anfang 1950 bekam Asmahans Vater einen denkwürdigen Brief aus Florida. Dieser Brief kam zur rechten Zeit, denn ihr Vater hatte durch Spekulation sein ganzes Geld verloren. Er lebte noch von seinem Gehalt als Direktor der Tabakfabrik, doch schon bald musste er Schulden machen, um sein aufwendiges Leben zu finanzieren. Es verging kein halbes Jahr, und das Haus war mit Hypotheken belastet. Nun kam der Brief wie eine göttliche Rettung in letzter Minute. Der Onkel des Vaters war ein reicher Hotelier, der jedoch kinderlos geblieben war. Nach mehreren Scheidungen und verlustreichen Prozessen hasste er die Amerikaner. Aus Angst, dass am Ende eines langen Arbeitslebens dieser Staat auch noch sein großes Vermögen erbte, schickte er nach dem einzigen Neffen, den er noch aus der Zeit vor seiner Auswanderung kannte. Er solle kommen, die Green Card erwerben und alles erben. Ein Ticket überzeugte den Vater, dass das kein Scherz war.
Schon drei Wochen später hatte er die notwendigen Papiere zusammen, löste alles auf und wanderte mit der ganzen Familie endgültig aus.
Der Abschied im Hafen von Beirut war bewegend. Alle weinten, nur Asmahans Mann lachte und scherzte ununterbrochen. Asmahan fühlte Ekel vor diesem Mann. Sie wartete, bis das Schiff aus dem Hafen auslief, dann beschimpfte sie ihn. Auf der ganzen Rückfahrt nach Damaskus stritten sie und kurz vor der Ankunft verlangte sie die Scheidung.
»Erst wenn ich eine schönere Geliebte finde«, sagte er und lachtederb. »Aber wenn du es eilig hast, besorge mir doch eine«, und er schüttelte sich so vor Lachen, dass er beinahe die Kontrolle über
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