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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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du, was immer mein Traum war?«, fragte sie ein wenig verlegen. Salman schüttelte den Kopf.
    »Eine Runde auf dem Fahrrad zu fahren. Ich kann ja nicht fahren, aber wenn du mich fahren würdest, wäre ich sehr stolz auf dich. Willst du mir diesen Wunsch erfüllen?«
    »Gerne«, sagte Salman.
    Eines Nachmittags war es so weit. Nach der Arbeit fuhr er mit dem Fahrrad durch das Eingangstor in den Gnadenhof. Er holte eine Steppdecke, mit der er die kleine Ladefläche auslegte, und lud die Mutter ein, aufzusitzen.
    Stolz fuhr Salman sie im Kreis durch den großen Hof. Die Nachbarn, Frauen und Männer, kamen heraus, setzten sich vor ihre Türen auf ihre Hocker und beobachteten die fröhliche Frau vorne auf demTransportrad. Barakat, der Bäckergeselle mit den schönen Töchtern, die inzwischen alle verheiratet waren, warf der Mutter ein rotes Windrad zu, das an einem Holzstab befestigt war. Sie lachte, hielt es in die Höhe, und der Wind ließ das rote Rädchen drehen. Zum ersten Mal in seinem Leben hörte Salman seine Mutter ein fröhliches Lied singen.
    Mehr als zwanzig Runden fuhr Salman, inzwischen mit einer Kindermeute im Schlepptau, die jubelte und sang. Wer ein Fahrrad besaß, fuhr hinter Salman her, und alle klingelten ununterbrochen. Es sah aus wie ein Hochzeitszug. Der Polizist Kamil, Sarahs Vater, stellte sich in seiner Uniform mitten in den Hof und regelte mit Pfiffen den Verkehr.
    Salman fiel auf, wie schön und jugendlich Sarahs Vater aussah im Gegensatz zu ihrer Mutter, die alt und müde wirkte – und sehr eifersüchtig war. Er erinnerte sich, was Sarah vor Jahren erzählt hatte: »Jeden Abend schluckt meine Mutter ihre Eifersucht hinunter und beschließt, meinem Vater zu vertrauen, doch in der Nacht schleicht die Eifersucht wieder aus ihrem offenen Mund und sobald mein Vater die Wohnung am frühen Morgen verlässt, springt die Eifersucht behende auf die Schulter meiner Mutter und flüstert ihr zu, ihre Bedenken seien berechtigt. Und sie füttert diese scheußliche Klette wie ein Haustier. Bis zum Abend ist sie dann so groß wie ein Huhn. Und wenn mein Vater müde von der Arbeit nach Hause kommt, schämt sich meine Mutter, voller Gewissensbisse gibt sie ihm einen Kuss, schlachtet ihre Eifersucht und isst sie wieder auf.«
    Salman fuhr seine Mutter so lange im Kreis herum, bis sie ihn erschöpft und glücklich bat, anzuhalten. Er fuhr sie bis zur Wohnungstür. Sie stieg ab und umarmte ihn: »Es war schöner als der Traum, den ich seit meiner Kindheit mit mir herumgetragen habe.«
    Eine Woche später fiel sie ins Koma. Salman sang an ihrem Bett leise ihre Lieder, aber sie reagierte nicht mehr. Manchmal bildete er sich ein, sie würde ihre Hand bewegen, um anzudeuten, er solle weitersingen.
    Ende Februar, einen Tag nach Salmans Entlassung, starb sie in der Nacht. Ganz still lag sie da, ein Hauch von einem Lächeln lag auf ihrenLippen. Salman weckte der Schrei seines Vaters, der wie ein Kind weinte und seine Frau immer wieder küsste und um Verzeihung bat. Unter ihrem Kopfkissen fand man das rote Windrad.
     
    Nach dem Zwischenfall mit dem Bettler blieb Salman dem Café von Karam eine Woche lang fern. Auch am Freitag ging er nicht zu dessen Haus.
    Tage später wollte er das Fahrrad in den Hof der Töpferei zurückbringen, als er dort Karam erblickte. Salman sperrte das Rad ab und wollte schnell verschwinden. »Warte doch, wo rennst du hin?«, fragte Karam freundlich, fast bittend.
    Salman antwortete nicht, blieb aber stehen und senkte den Blick. »Du musst auch mich verstehen«, sagte Karam, »ich kann nicht alle Hungrigen der Welt bei mir aufnehmen.«
    »Niemand hat das von dir verlangt. Ich wollte nur Flieger wiedersehen, und an dem Tag habe ich es nicht mehr geschafft, dich vorher zu informieren. Das tut mir leid, aber du musst mir nicht vorwerfen, ich hätte dich ruiniert.«
    »Nein, du hast mich nicht ruiniert. Es tut mir aufrichtig leid, und ich bitte dich um Verzeihung. Wollen wir wieder Freunde sein?«, fragte er. Salman nickte, und Karam zog ihn an sich und umarmte ihn.
    »Nicht so fest, sonst könnte jemand Badri gegen mich hetzen«, scherzte Salman.
    Sie gingen nebeneinander zum Café. »Und?«, wollte Karam wissen, als sie allein an einem Tisch in einer ruhigen Ecke saßen. »Was Neues an der Liebesfront?« Salman aber wollte ihm kein Wort von seiner leidenschaftlichen Liebe zu Nura erzählen. Nicht einmal aus Misstrauen, sondern einfach, weil er diese Kostbarkeit, die Liebe zu Nura, mit niemandem

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