Das Geheimnis Des Kalligraphen
nichts davon.
Es war wie die Sucht nach einer Droge. Er saß immer da, als hätte er ihr Kommen erwartet. Und doch war er jedes Mal sichtlich erleichtert, wenn sie kam.
Sobald sie auf dem großen alten Sofa saßen, das früher einmal in seinem roten Samt Luxus ausgestrahlt haben musste, berührte er ihre Lippen mit seinen zarten Fingern und begann Gedichte über die Schönheit der Frauen zu rezitieren. Es waren, wie sie erst spät begriffen hatte, seine Gedichte, die ihre Schönheit besangen. Sie vergaß die aufgestapelten Blumentöpfe, die rostenden Werkzeuge der früheren Gärtner, die Gießkannen und Schläuche. Berührt durch seine Worte bewegte sie sich in einer anderen Welt, die nur ihnen beiden gehörte.
Einmal brachte er ein großes Buch mit, dessen Seiten mit für sie unverständlichen Ornamenten aus verschlungener Schrift gefüllt waren. Da und dort erkannte sie ein Wort, einen Buchstaben, aber das Ganze blieb ein Geheimnis. Die Buchstaben bildeten einen eleganten Dschungel aus schwarzer Farbe und weißen Zwischenräumen.
Er küsste sie an diesem Tag lang, und ihr wurde schwindelig. Er nahm ihren Zeigefinger und streifte damit die Buchstaben entlang, und sie spürte, wie die Schrift in sie hineinfloss. Das Buch lag vor ihr auf einem niedrigen alten Tisch. Malik beugte sich näher zum Blatt und suchte den Weg der Schrift im Labyrinth der Linien, Bögen und Punkte, und er sah im einfallenden Licht durch das bunte Glasfenster göttlich schön aus. Als sie ihn aufs Ohrläppchen küsste, lächelte er und fuhr mit dem Finger ein Wort entlang, das sie nun aus dem Dschungel der Buchstaben befreit sah und lesen konnte: Liebe.
Eines anderen Tages sah sie ihn vor einem großen Buch im Gartenhaus sitzen. Er stand sofort auf, lächelte sie an, nahm sie an der Hand und führte sie zum Sofa. Er küsste sie heftig, so dass sie völlig durcheinandergeriet. Er machte ihr Angst, denn er schien wie im Rausch zu sein. Sie lag unter ihm, und er küsste sie nicht nur auf Lippen, Hals und Wangen, sondern traf manchmal wie ein Blinder ihren Gürtel und küsste ihn, und er traf ihre Armbanduhr und küsste sie, er küsste ihr Kleid, ihre Knie und ihre Wäsche und gab dabei einen Ton von sich wie das leise Jammern eines Säuglings, der hungrig die Brust seiner Mutter sucht.
Dann lächelte er, richtete sich auf und wartete, bis auch sie sich aufgesetzt hatte, nahm ihren rechten Zeigefinger in seine Hand und wanderte über die Worte des ersten großen Ornaments im Buch.
Es waren Verse einer feurigen erotischen Poesie und sie begriff schnell, dass dieses Buch ein verbotenes Buch der Liebe war. Der Schreiber hatte im vierzehnten Jahrhundert gelebt und verwegene, offen erotische Verse aus aller Welt gesammelt und durch die Kunst der Kalligraphie verborgen. Nur Kenner vermochten die Geheimnisse der Buchstaben zu lüften. Für Nichteingeweihte sah das Schriftbild nach einem schönen Ornament aus.
Seite für Seite wurden verbotene Liebe, Liebespraktiken und das wachsende Verlangen nach Berührung des Geliebten beschrieben. Und immer wieder besangen die Verse die körperliche Schönheit von Männern und Frauen in allen Details. Oft stand zur Tarnung über den erotischen Versen ein leicht lesbarer religiöser Spruch. Malik fuhr mit Asmahans Finger fort, bis sie ein heftiges Verlangen nach ihm verspürte. Sie umarmte ihn und lauschte, auf ihm liegend, dem schnellen Klopfen seines Herzens.
Sie liebte ihn mit aller Erotik und aller Unschuld gleichzeitig. Tage, Monate und Jahre vergingen so leichten Fußes wie eine Sekunde, deshalb wusste sie später nicht die Jahre voneinander zu unterscheiden. Sie erwachte erst, als er plötzlich schwer krank wurde.
Hatte sie all die Jahre nicht gewusst, dass er unheilbar krank war? Hatte sie nie Angst um ihn gehabt? Warum hatte sie in ihren Tagträumen so vieles geplant, wissend, dass sein Herz unheilbar krank war? Hatte sie ihn vielleicht so abgöttisch geliebt, damit er länger lebte?
Völlig überraschend stand seine Schwester eines Tages vor ihrer Haustür und nuschelte mit gesenktem Blick, Malik liege im Sterben und wolle sie sehen. Asmahan rannte auf der Stelle los, ohne Pause von ihrer Gasse bis zum weit entfernt gelegenen italienischen Krankenhaus. Sein Zimmer war voller Menschen. Malik sah sie und lächelte. In die schlagartig eingetretene Stille flüsterte er: »Das ist sie. Das ist sie.«
Die abschätzigen Blicke der Anwesenden machten sie darauf aufmerksam, dass sie in Hausschuhen
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