Das Geheimnis Des Kalligraphen
teilen wollte.
»Nein, es ist immer noch eine einseitige Liebe von mir zu ihr. Sie mag mich vielleicht, ist freundlich zu mir, aber ihrem Mann sehr treu, und sie kann mit Männern nichts anfangen, die abstehende Ohren haben«, sagte er und grinste innerlich so sehr, dass er beinahe Schluckauf bekam.
31.
E s waren seine Briefe, die Asmahan vergessen ließen, dass sie niemals und niemanden lieben dürfe. Sie war aber längst nicht mehr Herrin über ihr Herz und verlor ihre aufgesetzte Nüchternheit, sobald Nassri das Haus betrat. Sie wurde wieder zu dem jungen Mädchen, das vor mehr als zehn Jahren sehnsüchtig auf die Worte ihres damaligen Geliebten gewartet hatte und die Nacht wach geblieben war, wenn sich einer der Briefe verspätet hatte.
Sie war damals zehn oder elf, als sie sich unsterblich in den blassen Nachbarjungen Malik verliebt hatte. Er war nicht einmal fünfzehn, aber er besaß den geheimen Schlüssel der Poesie, mit dem er ihr die Welten hinter den Buchstaben öffnete. Das war lange her.
Asmahans Mutter stammte aus einer reichen Familie. Sie hatte als dritte Frau in Syrien 1930 Abitur gemacht, zwei Jahre vor Asmahans Geburt.
Ihr Vater entstammte einer städtischen Händlerfamilie, die seit dem Mittelalter Handelsbeziehungen zu Venedig, Wien, London und Lübeck unterhalten hatte. Er war Leiter einer Tabakfabrik, und obwohl Muslim, schickte er sie genau wie seine anderen vier Kinder in eine Eliteschule der Christen. Sie ging in eine Mädchenschule im Stadtteil Salihije, drei Straßen von ihrem jetzigen Haus entfernt. Die Schule wurde von strengen Nonnen mit merkwürdigen Kostümen geführt. Sie trugen eine schneeweiße Kopfbedeckung, die auf beiden Seiten ausladende scharfkantige Krempen hatte. Wenn die Nonnen gingen, wippten die Krempen so, als würde ein Schwan auf ihren Köpfen balancieren und sich durch Flügelschläge im Gleichgewicht halten.
Die Schule verfügte über eine große Bibliothek, doch die Schülerinnen durften die Bücher nicht anfassen. Auch zu Hause durfte Asmahan sich nicht aussuchen, was sie lesen wollte. Ihr Vater bewahrte seine Bücher in einem schönen Wandschrank mit Glastüren auf. Sie lernte die Titel auf den Buchrücken alle auswendig, aber sie kam nie auf den Gedanken, eines der Bücher herauszunehmen und zu lesen. Malik wares, der ihr sagte, dass genau die verbotenen Bücher alles Wertvolle für einen Menschen enthielten. Eines Tages fand sie den Schlüssel zum Bücherschrank und nahm eines der Bücher, dessen Titel sie schon immer fasziniert hatte: »Geheimnis der Worte«. Sie las mit klopfendem Herzen. Malik kannte das Buch, und er sagte ihr, sie solle weiterlesen, denn auch das, was sie nicht verstehe, sammle sich in ihr wie eine Knospe und warte auf den richtigen Augenblick, um sich zu entfalten.
Es sollte fünf Jahre dauern, bis sie alle Bücher der Bibliothek ihres Vaters gelesen hatte. Zu den heimlichen Treffen mit Malik nahm sie stets ein Buch mit und las ihm ein Gedicht oder eine Anekdote vor, die von Liebe handelte. Malik schien beim Zuhören noch blasser zu werden, als er sowieso schon war. Manchmal weinte er, wenn das Gedicht von der Qual der Liebe berichtete.
Nie wieder war Asmahan einem Menschen begegnet, der besser zuhören konnte. Sie spürte, dass Malik ihre Worte mit einem unsichtbaren Magneten in seinen Ohren so gierig anzog, dass er ihr die Worte beinahe herausriss. Ihre Zunge kitzelte deshalb merkwürdig, wenn sie ihm erzählte.
Und nach dem Vorlesen erklärte er ihr, was die Anspielungen in den Versen bedeuteten, und sie hatte das Gefühl, als würde er sie an die Hand nehmen und sie in geheime Lustgärten bringen. Malik konnte nicht nur die sichtbaren Worte lesen, sondern zudem ihre verborgenen Wurzeln sehen.
Durch einen heimlichen Durchschlupf durch die Hecke betrat sie fast täglich den Garten seines Elternhauses, wo sie sich im Geräteschuppen trafen. Der große Garten war zu einem Dschungel wilder Bäume und Sträucher geworden, weil seine Eltern die Gartenarbeit hassten und mit Rosen, Weinreben, Orangen- und Maulbeerbäumen nichts anfangen konnten. Sie hatten das Haus geerbt und heruntergewirtschaftet. Und noch bevor sie 1950 nach Amerika auswanderten, war das einst herrschaftliche Haus fast verfallen.
Aber das kam erst viele Jahre später, da war Asmahan bereits verheiratet und Malik seit drei Jahren unter der Erde.
Fünf Jahre lang traf sie ihn fast täglich. Ihre Mutter und ihre Geschwister merkten bis zu Maliks Tod
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