Das Geheimnis Des Kalligraphen
ihm besser einen gestempelten Antrag auf einen Gruß übergeben. Dann bekommst du vielleicht eine Antwort.«
Man sagte aber auch, Bürokratie sei notwendig, damit die Staatsbeamten produktiver und moderner arbeiten könnten. Würde man den redseligen Syrern mündliche Bitten und Anfragen erlauben, wüchse sich jeder Antrag zu einer unendlichen Geschichte mit verschachtelten Arabesken und Fortsetzungen aus. Die Beamten wären zu keiner vernünftigen Arbeit mehr gekommen. Zudem würden Staatsmarken schlecht auf gesprochenen Worten kleben.
Und so saßen die Schreiber am Eingang der Behörden unter ihren verblichenen Sonnenschirmen an winzigen Schreibtischen und schrieben Anfragen, Einsprüche, Anträge, Bitten und andere Schriften. Da die Polizei pro Schreiber nur einen Stuhl und einen Tisch genehmigte, blieben die Kunden stehen. Sie sagten dem Schreiber, worum es ungefähr ging, und der legte sofort los. Damals schrieb man alles mit der Hand, und der Ardhalgi schrieb mit ausladenden Handbewegungen, um den Aufwand deutlich zu machen, der ihm gerade dieser Antrag abnötigte.
Je besser das Gedächtnis eines Schreibers war, desto flexibler war er, denn die Anträge bei Gericht sahen anders aus als die beim Finanzministerium und die wiederum anders als beim Einwohnermeldeamt. Manch ein Schreiber hatte mehr als fünfzig Versionen im Kopf parat und konnte mit Klapptisch und Stuhl je nach Saisonund Tag zwischen den Eingängen der verschiedenen Behörden pendeln.
Onkel Farid saß immer unter einem schönen roten Schirm vor dem Familiengericht. Er war eleganter als alle seine Kollegen und hatte deshalb immer viel zu tun. Die Leute dachten, er hätte ein besseres Verhältnis zu den Richtern und Anwälten, und Onkel Farid bestärkte sie in ihrem Glauben.
Die Ardhalgis schrieben nicht nur, sie berieten die Kunden auch, wohin sie mit dem Antrag am besten gehen sollten und wie viel er an Staatsmarken kosten dürfe. Sie trösteten die Verzweifelten und stärkten die Protestierer, ermunterten die Schüchternen und bremsten die Optimisten, die meist übertriebene Vorstellungen von der Wirkung ihrer Anträge hatten.
Onkel Farid hätte, wenn er nicht zu faul gewesen wäre, ein großes Buch mit Geschichten, Tragödien und Komödien füllen können, die er – während er schrieb – von den Klienten gehört hatte, die aber niemals in einem Antrag Platz fanden.
Nicht nur Anträge schrieb Onkel Farid. Auch Briefe aller Art. Am häufigsten aber schrieb er an Emigranten. Man musste ihm nur den Namen des Emigranten und das Land, wo er arbeitete, mitteilen, und schon hatte er einen langen Brief im Kopf. Es waren, wie Nura später erfuhr, nichtssagende Briefe, deren Inhalt sich in einer Zeile zusammenfassen ließ. Im Falle der Emigranten hieß es häufig einfach: Schicke uns Geld, bitte. Diese eine Zeile war allerdings versteckt in wortreichen Lobeshymnen, in übertriebenen Sehnsuchtsbezeugungen, in Treueversprechen und einem Schwur auf Vaterland und Muttermilch. Alles, was die Tränendrüsen betätigte, war ihm recht. Die wenigen Briefe, die Nura später lesen durfte, wirkten auf sie jedoch nur lächerlich. Zu seinen Lebzeiten sprach Onkel Farid nie über seine Briefe, sie waren ein intimes Geheimnis.
Wer etwas mehr Geld hatte, bestellte Onkel Farid zu sich nach Hause und diktierte ihm in aller Ruhe, was zu schreiben oder zu beantragen war. Das war natürlich teurer, aber diese Briefe waren dafür bestens komponiert.
Die noch reicheren Damaszener gingen nicht zu einem Ardhalgi,sondern zu den Kalligraphen, die schöne, mit Kalligraphien umrandete Briefe schrieben und meist über eine Bibliothek verfügten, deren Weisheiten und erstklassig passende Zitate sie dem Kunden anbieten konnten. Solche Briefe waren Unikate im Gegensatz zu jenen der Straßenschreiber, die Fließbandware lieferten.
Die Kalligraphen machten aus dem einfachen Akt des Briefschreibens einen Kult voller Geheimnisse. Briefe an Ehemänner oder Ehefrauen schrieben sie mit einer kupfernen Feder, für Briefe an Freunde und Geliebte nahmen sie eine silberne, an besonders wichtige Personen eine goldene, an Verlobte eine aus dem Schnabel eines Storches und an Gegner und Feinde eine aus einem Granatapfelzweig geschnitzte Feder.
Onkel Farid liebte Nuras Mutter, seine Halbschwester, er besuchte sie – bis zu seinem Tod durch einen Autounfall zwei Jahre nach Nuras Hochzeit – sooft er konnte.
Erst später sollte Nura erfahren, dass die Abneigung gegen den eigenen Vater, den
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