Das Geheimnis Des Kalligraphen
Kundschaft begleiten.
4.
M it acht Jahren und sieben Monaten trat Salman im Herbst des Jahres 1945 zum ersten Mal durch das niedrige Tor der Sankt-Nikolaus-Schule für arme Christen. Er wollte nicht in die Schule, aber es half ihm nicht einmal, dass er bereits lesen und schreiben konnte. Sarah hatte ihn unterrichtet und immer wieder mit ihm geübt. Er musste sie nur »Frau Lehrerin« nennen, während sie ihm die Geheimnisse der Buchstaben und Zahlen beibrachte. Wenn er fleißig war undkluge Antworten gab, küsste sie ihn auf die Wangen, auf die Augen oder auf die Stirn oder, wenn er besonders glänzte, auf die Lippen. Bei Fehlern schüttelte sie den Kopf und wedelte mit dem Zeigefinger vor seiner Nase herum. Nur wenn er frech oder unwillig war, zog sie ihn zart am Ohrläppchen oder gab ihm eine Kopfnuss und sagte: »Ein Schmetterling klopft und warnt dich, nicht noch frecher zu werden.«
Er wollte nicht in die Schule, doch Pfarrer Jakub hatte seinen Vater davon überzeugt, dass Salman durch den Unterricht ein richtiges katholisches Kind werden würde. »Sonst ist die Erstkommunion in Gefahr«, betonte er, und der Vater begriff, dass auch die Wohnung, die er nur durch die Gnade der katholischen Kirche bewohnte, ebenso in Gefahr schwebte.
Als Salman an jenem Oktobermorgen den dunklen Hof betrat, endete der sonnige Tag am Eingang. Es stank nach schimmeliger Feuchte und Urin. Eine Ratte lief, Rettung suchend und gehetzt von drei laut quietschenden Jungen, durch ein kleines Kellerfenster mit zerbrochener Scheibe.
Es waren Monate in der Hölle. Im Unterricht schlugen ihn die Lehrer erbarmungslos und im Schulhof wurde er wegen seiner mageren Gestalt und seiner abstehenden großen Ohren gehänselt. »Der dünne Elefant« wurde er genannt. Nicht einmal die Lehrer fanden etwas dabei, sich über ihn lustig zu machen.
Eines Tages sollten die Kinder die Verben der Fortbewegung lernen. »Der Mensch ... «, rief der Lehrer und die Schüler antworteten laut: »geht«. Der Fisch schwimmt, der Vogel fliegt, das wussten alle. Bei der Schlange sprachen die Schüler erst durcheinander, bis sie sich darauf einigten: »sie kriecht«. Beim Skorpion wusste die Mehrheit nur, dass er sticht. »Er krabbelt«, belehrte sie der Lehrer. »Und Salman?«, fragte er. Die Schüler lachten verlegen und warfen alle Verben der Fortbewegung in die Debatte, aber der Lehrer war nicht zufrieden. Salman senkte den Blick, seine Ohren wurden dunkelrot.
»Er segelt«, brüllte der Lehrer und lachte, und die ganze Klasse lachte mit. Nur einer nicht, Benjamin, Salmans Tischnachbar. »Arschglatze«, flüsterte er seinem niedergeschlagenen Freund zu, und Salman musste lachen, weil dieser Lehrer eine besonders große Glatze hatte.
Salman hasste die Schule und drohte schon zu ersticken, als Benjamin ihm das Tor zur Freiheit zeigte. Benjamin hatte die erste Klasse bereits zweimal wiederholt. Er war ein hochgewachsener Junge und hatte die größte Nase, die Salman je in seinem Leben gesehen hatte. Trotz seiner zwölf Jahre hatte er noch immer nicht die Erstkommunion. Da sein Vater in der kleinen Bude an der Kreuzung nahe der katholischen Kirche jeden Tag Unmengen von Falafelbällchen frittierte, stank Benjamin oft nach ranzigem Öl. Auch er wollte, ebenso wie Salmans Vater, seinen Sohn nicht in die Schule schicken. Und er hätte es auch nicht getan, wenn nicht Jakub, der neue fanatische Pfarrer der katholischen Kirche, die Nachbarschaft gegen ihn aufgehetzt und leise Zweifel an seinem christlichen Glauben und an der Sauberkeit seiner Hände geäußert hätte. So leise, dass Benjamins Vater erst einen Monat später davon erfuhr und sich dann auch nicht mehr wunderte, warum viele seiner Stammkunden zu dem widerlichen Heuchler Georg übergelaufen waren, dessen Falafel nach alten Socken schmeckten, in dessen Bude es aber von Kreuzen und Heiligenbildern nur so wimmelte, als wäre sie ein Wallfahrtsort.
Eines Tages, nachdem Salman im Schulhof vom Aufseher eine Tracht Prügel bekommen hatte, verriet ihm Benjamin ein großes Geheimnis. »Die Lehrer achten in dieser gottverfluchten Schule nicht darauf, wer kommt und wer nicht«, erzählte ihm Benjamin leise, »nur am Sonntag kontrollieren sie die Kinder vor dem Gang in die Kirche. Ansonsten merken die Typen oft nicht einmal, in welcher Klasse sie sich befinden, und entdecken am Ende der Stunde, dass sie die zweite für die vierte Klasse gehalten haben.«
Salman hatte große Angst, die Schule zu schwänzen.
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