Das Geheimnis Des Kalligraphen
Gabriel, der Sohn der Schneiderin, hatte ihm erzählt, man würde einen Tag lang in den Keller gesperrt, wo einem die hungrigen Ratten die Ohren, die man vorher mit ranzigem Fett eingeschmiert bekomme, anknabberten. »Und bei dir hätten die Ratten ja genug zu fressen«, hatte Gabriel gesagt und dreckig gelacht.
»Gabriel ist ein Angsthase«, erklärte Benjamin. Kurz vor Weihnachten führte ihm Benjamin vor, wie er die Schule vier Tage lang schwänzen konnte, ohne dass einer es merkte. Nun traute sich auch Salman,und an einem kalten, aber sonnigen Januartag verbrachten beide vergnügliche Stunden auf den Märkten und amüsierten sich beim Naschen von Süßigkeiten, wenn die Verkäufer nicht aufpassten.
Zu Hause hatte niemand etwas bemerkt, also blieb er immer häufiger weg.
Nur am Sonntag stand er sauber gewaschen und gekämmt in der Reihe und zeigte seine Hände mit den geschnittenen Nägeln. Selten bekam er hier einen Schlag mit der breiten Holzlatte, die sonst auf die schmutzigen Hände niedersauste.
»Ich muss ohnehin nach der Kommunion von der Schule abgehen. Vater sagt, bis dahin hätte ich nur mehr Narben am Hintern und Leere im Kopf, weiter nichts. Lieber soll ich Geld verdienen und meine neun Geschwister ernähren«, erzählte Benjamin.
»Und ich will in die Sarah-Schule«, sagte Salman. Benjamin dachte, das sei eine bessere Schule, und fragte nicht weiter.
Salman und Benjamin beneideten keinen Schüler außer Girgi, den Sohn des Maurers Ibrahim. Sein Vater war eine beeindruckende Erscheinung von zwei Metern Höhe und einem Meter Breite.
Eines Tages schlug Lehrer Kudsi den Jungen, der ins Lehrerzimmer geschlichen war und die beiden belegten Brote des Lehrers vertilgt hatte, während dieser gerade »den Kampf gegen die Mächte der Dunkelheit im Herzen seiner Schüler« führte. Mit diesem Satz begrüßte er jede Klasse, so dass sogar die anderen Lehrer ihn verächtlich »Ritter Dunkelheit« nannten.
Girgis Vater, Ibrahim, reparierte gerade die Außenmauer des Hauses der reichen Familie Sihnawi. Das vornehme Haus lag schräg gegenüber der Schulgasse. An diesem Tag war Ibrahim besonders schlecht gelaunt, weil die Luft verpestet war. In unmittelbarer Nähe öffneten zwei junge Arbeiter langsam eine verstopfte Stelle der Kanalisation. Und wie alle städtischen Angestellten waren sie mit der Gabe der Langsamkeit gesegnet. Die schwarze, stinkende Masse, die sie ans Licht beförderten, häuften sie am Straßenrand auf und gingen dann zum Kaffeetrinken ins nahe gelegene Kaffeehaus.
Plötzlich kamen zwei Mädchen zum Maurer gelaufen und erzähltenatemlos, sie hätten gesehen, wie ein Lehrer mit einem Bambusrohr erbarmungslos auf seinen Sohn Girgi einschlug und dabei den Vater und die Mutter des Jungen beschimpfte, sie seien keine Christen, sondern Teufelsanbeter. Und von seinem Sohn habe der Lehrer verlangt, das zu wiederholen, und Girgi habe weinend die Worte des Lehrers wiederholt.
Der Maurer bewunderte die Mädchen, wie sie abwechselnd sprachen und ihm trotz ihrer Aufregung alles so haargenau und überzeugend darstellten, wie sein Sohn Girgi es nie gekonnt hätte.
Sprühregen aus glühenden Nadeln sah er vor dem dunklen Firmament, als er die Augen für eine Sekunde schloss. Er stürmte den Mädchen voran auf die hundert Meter entfernte Schule zu, und bevor er das niedrige Holztor mit dem berühmten Bild des heiligen Nikolaus erreichte – der gerade dabei war, Kinder aus dem Pökelfass zu befreien –, begleiteten ihn außer den zwei Mädchen der Friseur, der zu dieser Stunde nur die Fliegen vertrieb und seinen ohnehin perfekten Schnurrbart zum wiederholten Male mit Bartwichse zwirbelte, der Teppichrestaurator, der an solchen Vormittagen vor der Tür arbeitete, die zwei Stadtarbeiter, der Gemüsehändler und zwei fremde Passanten, die nicht wussten, worum es ging, aber sicher waren, dass es spannend werden würde. Und sie sollten von der Vorstellung nicht enttäuscht werden.
Mit einem Tritt gegen die Holztür und einem Schrei, der an Tarzan erinnerte, gelangte der wutentbrannte Ibrahim in die Mitte des engen Schulhofs.
»Wo ist dieser Hurensohn? Wir sind keine Teufelsanbeter. Wir sind brave Katholiken«, schrie er. Der Direktor der Schule, ein untersetzter Mann mit Brille und einer lächerlich getarnten Glatze, kam aus seinem Büro, und noch bevor er seine Empörung über die unflätigen Ausdrücke äußern konnte, überraschte ihn eine schallende Ohrfeige, die ihn mehrere Meter rückwärts
Weitere Kostenlose Bücher