Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
geschnitzten Holzfigur, deren Augen aus Paua-Muscheln sie mit ihrem Blick schier aufzuspießen drohten, auf die weit herausgestreckte Zunge.
Hastig verließ sie den Steg in Richtung Macandrew Bay. Um diese Zeit war kaum mehr etwas los. Hier draußen herrschte völlige Stille. Schließlich stellte sich Grace an die Straße und wartete. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie Motorengeräusche vernahm und sich zum Trampen bereitmachte. Der Wagen hielt sofort, und der Fahrer nahm sie fast bis vor das Haus der Professorin mit. Sie war heilfroh, dass der Mann wortkarg war und sie nur nach ihrem Ziel fragte, aber ansonsten keinerlei Interesse an ihr zeigte.
Grace hoffte sehr, dass ihr Suzan an diesem Abend nicht mehr begegnete. Sie wollte sich ihr auf keinen Fall anvertrauen. Wahrscheinlich würde Suzan ihr nämlich wieder an der Nasenspitze ansehen, dass etwas passiert war, und dann so lange bohren, bis sie alles ausplauderte. Es genügte, wenn sie ihr morgen schonend beibrachte, dass sie nun doch keine zwei Monate mehr bleiben konnte, sondern schon morgen den Flieger nach Auckland nehmen würde. Langsam musste Suzan sie ja für ein Fähnchen im Wind halten.
Leise versuchte Grace, an Suzans Wohnzimmer vorbeizuschleichen. Die Tür war nur angelehnt, und ein Lichtstrahl fiel auf den Flur, doch das schrille Klingeln des Telefons ließ Grace zusammenzucken. Sie blieb erschrocken stehen und hielt die Luft an. Ein Blick auf ihre Armbanduhr zeigte bald Mitternacht. Wer ruft denn um diese Zeit hier an?, fragte sie sich, als sich Suzan schon mit schroffer Stimme meldete. Hoffentlich ist es nicht Barry, dachte sie und lauschte.
»Hallo?«
Komisch, Suzan meldet sich nicht mit Namen, fiel Grace auf. Dann gab es eine längere Pause. Grace bemühte sich, nicht laut zu atmen. Der Anrufer schien Suzan den Grund seines späten Anrufs zu erklären.
»Tut mir leid. Sie ist ausgegangen«, sagte Suzan schließlich nicht gerade freundlich. »Versuchen Sie es einfach noch einmal, wenn es hier nicht mitten in der Nacht ist«, fügte sie bissig hinzu.
Grace stutzte. Wollte sie da etwa jemand aus Deutschland sprechen und hatte die Zeitverschiebung vergessen? Doch wer wusste von der Professorin und dass man sie, Grace, hier im Institut erreichen konnte? Da kamen nur zwei Personen in Frage: Professor Heinkens und ihre Freundin Jenny. Ja, denen hatte sie sogar die Telefonnummer für den Notfall gegeben. Da Ethan nichts von der Einladung der Professorin wusste, konnte er kaum jener Anrufer sein.
Grace wollte sich gerade bemerkbar machen, da hörte sie Suzan mit schneidender Stimme sagen: »Nein, da liegen Sie falsch. Was heißt, unverwechselbare Stimme? Ich muss doch sehr bitten. Woher? Nein, ich kenne Sie aber nicht. Nein, wie oft soll ich Ihnen das noch sagen? Mein Name ist Vanessa Brown. Nein, Sie irren sich. Ich war nie eine andere.«
Grace klopfte das Herz bis zum Hals. Warum verleugnete sich Suzan? Warum behauptete sie, ihre eigene Mitarbeiterin zu sein? Da war es wieder, dieses merkwürdige Gefühl, dass mit der Professorin etwas nicht stimmte. Angestrengt lauschte Grace dem weiteren Verlauf des sonderbaren Telefonats.
»Nein, Sie müssen sich nicht entschuldigen. Das kann doch jedem mal passieren. Nein, ich nehme Ihnen das gar nicht übel. Ich verwechsle auch manchmal Stimmen am Telefon. Gut, ja, natürlich kann ich ihr etwas ausrichten. Ich höre.«
Grace kämpfte mit sich, ob sie ihren Lauschposten aufgeben sollte, aber sie blieb wie angewurzelt stehen und gab keinen Laut von sich. Sie schwitzte vor lauter Aufregung.
»Das werde ich ihr sagen. Ist nicht schlimm, ich war noch wach. Auf Wiederhören!«
Dann herrschte Stille. Nun war es zu spät, sich zu zeigen. Grace betete, dass ihr Herzklopfen nicht bis ins Wohnzimmer drang. Auf Zehenspitzen wollte sie hastig in ihr Zimmer schleichen, doch dann knackte der Dielenboden. Erschrocken blieb sie stehen, aber nichts geschah. Suzan hatte sie wohl nicht gehört. Trotz ihrer wackligen Knie schaffte sie es nun, unbemerkt in ihr Zimmer zu schlüpfen.
Sie ließ sich aufs Bett fallen und atmete ein paarmal tief durch. Jetzt lief ihr der Schweiß in Strömen über das Gesicht. Wer hatte da wohl versucht, sie anzurufen? Und was hatte es zu bedeuten, dass Suzan am Telefon log? Grace ärgerte sich inzwischen maßlos darüber, dass sie nicht einfach ins Zimmer getreten war und sich den Anrufer hatte geben lassen. Insgeheim aber ahnte sie bereits, warum sie es letztlich unterlassen hatte. Sie
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