Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
Sonnenuntergang verpassen.«
Murrend stieg Grace aus und folgte ihm erneut, obgleich ihr das nicht recht war. Sie hatte sich schon längst von ihm verabschieden wollen, aber so war es bereits in Thailand gewesen. Ihr Verstand hatte dagegen protestiert, dass sie ihm überallhin folgte, aber sie hatte es trotzdem getan. Und dieses Muster scheint immer noch zu funktionieren, ging es Grace durch den Kopf.
Beim Bootshaus angekommen, zog Barry aus einer geschnitzten Holzfigur, die den Eingang bewachte und zum Fürchten aussah, einen Schlüssel und öffnete die Tür. Er ließ sie ins Haus vorgehen. Grace hatte die Einrichtung eines Schuppens erwartet, aber stattdessen stand sie in einem lichtdurchfluteten Raum, in dem es an nichts fehlte.
»Aber das sieht ja aus wie eine Wohnung!«, rief sie erstaunt aus.
»Es ist eine Wohnung, Süße. Sie gehört meinem Bruder, aber er ist gerade auf einer seiner Inseln. Du weißt schon, kleine Kiwi-Kinder retten. Und danach zieht er eh zu mir.«
»Und das hier gibt er etwa auf?«
»Um Gottes willen, nein, er wird sicher oft am Wochenende herfahren, denn er hat es eigenhändig umgebaut. Er liebt sein Bootshaus über alles, und er braucht es auch, um von hier aus zu segeln.«
Grace holte tief Luft. Es war ihr ganz und gar nicht recht, dass sie nun überraschend in Horis Wohnung gelandet waren. Und doch schaute sie sich fasziniert die Fotos an den Wänden an. Sie zeigten alle den neuseeländischen Wappenvogel, aber jedes für sich war ein kleines Kunstwerk. Auf keinem der Fotos war einfach nur ein Kiwi abgebildet.
»Wer hat die Bilder gemacht?«, fragte sie neugierig.
»Hori. An ihm ist wirklich ein Fotograf verlorengegangen, aber er will unbedingt bei seinen Vögeln bleiben. Was meinst du, was man ihm schon geboten hat, aber er gibt keins von den Fotos raus. Willst du was trinken?«
Grace wollte die Frage verneinen, aber stattdessen nickte sie. Er brachte ihr ein Glas Weißwein und holte sich selbst ein Bier.
»Komm schnell! Lass uns nach draußen gehen.« Er öffnete die Schiebetüren, die zur Bucht gingen, und rief aus: »Das ist der geilste Blick auf der ganzen Otago-Halbinsel!«
Von der hölzernen Terrasse, die ins Wasser führte und ebenfalls auf Stelzen stand, bot sich ihnen in der Tat ein gigantischer Blick über den Otago Harbour auf die Stadt Dunedin.
»Das ist ja himmlisch«, entfuhr es ihr, während sie sich auf eine Holzbank setzte. Barry hockte sich daneben und legte den Arm um sie.
Grace sah fasziniert zu, wie die Sonne über Dunedin malerisch zu sinken begann. Sie hatte auf der Welt schon einige bezaubernde Sonnenuntergänge erlebt, aber das hier war einzigartig. Die ganze Stadt war in rotes und gelbes Licht getaucht.
Barry fragte, ob sie noch einen Wein haben wolle. Sie hielt ihm verträumt ihr Glas hin, weil sie den Blick nicht von diesem beeindruckenden Schauspiel der Farben wenden konnte. Erst als der rot glühende Feuerball hinter den Hügeln von Dunedin verschwunden war, sah sie Barry an.
Der hatte die Augen geschlossen und deklamierte: »Wo bist du? Trunken dämmert die Seele mir. Von all deiner Wonne; denn eben ist's, dass ich gelauscht, wie, goldner Töne voll, der entzuckende Sonnenjungling ...«
»Wow, du sprichst ja fast perfekt Deutsch, aber das ist nicht von dir. Ich kenne es zufällig«, sagte sie lächelnd.
»Nein, das ist von Frederik Holderlein, einem deutschen Dichter.«
»Woher kennst du Hölderlin?« Grace sah ihn erstaunt an.
»Ich hatte mal eine Freundin, die war Lehrerin für deutsche Literatur.«
»Lass mich raten. Urlaubsbekanntschaft aus Thailand?«
»Nein, sie hat ein Sabbatjahr in Neuseeland gemacht.«
Grace lag die Frage auf der Zunge, die wievielte seiner Urlaubsbekanntschaften sie eigentlich war, aber sie konnte sich gerade noch beherrschen.
Barry hatte sie nun ganz dicht zu sich herangezogen. Grace wehrte sich nicht, sondern ließ ihren Kopf gegen seine Schulter sinken. Und plötzlich kam ein wenig von dem Gefühl auf, das sie auf Ko Samui für Barry empfunden hatte. Sie hatten dort so unendlich viele Sonnenuntergänge gemeinsam betrachtet. Im warmen Sand mit einer Flasche Wein und von der Illusion beseelt, die Welt würde nur aus diesem verführerischen gelb-roten Farbenspiel bestehen.
Grace wehrte sich auch nicht, als er sie von der Bank auf den Holzboden der Terrasse zog und zu streicheln begann. Im Gegenteil, auf einmal schien alles leicht und unbeschwert. Was mache ich mir nur immer für Gedanken?, ging es ihr
Weitere Kostenlose Bücher