Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
nicht helfen, es schien sogar, als ob sie sich mit besonderer Gier auf ihn stürzte. Und um es kurz zu machen, Mutter war die Nächste. Auf dem Totenbett sah sie ihren Fehler ein. ›Geht zu Jovinda‹, raunte sie mit rauer Stimme. ›Immer nach Westen. Castelmar.‹ Sie drückte mir ein Beutelchen in die Hand, das vier Goldstücke enthielt, den Rest ihrer Mitgift.
Nach ihrem Tod zündeten wir das Haus an. Das war Gesetz. Seuchenhäuser mussten brennen. Es war ein grauer Frühsommertag, zu kühl für die Jahreszeit. Westwind wehte. Wir kehrten den Flammen den Rücken und liefen in den Wind.«
»Sie kehrten den Flammen den Rücken und liefen in den Wind«, echoten die Rattenkinder.
»Wir hatten uns die Reise zu Jovinda ganz einfach vorgestellt. ›Nach Westen‹ hatte es geheißen. Westen war dort, wo die Sonne unterging. Also dachten wir, dass wir nur in diese Richtung weitergehen müssten, bis wir vor Jovindas Haus in Castelmar stehen würden. Wir wussten nichts von der Welt, wir hatten immer nur auf dem Hof gelebt.
Am Anfang war es wirklich nicht schwer. Da war eine lange, gerade Straße, die nach Westen führte. Viele Menschen waren darauf unterwegs, ein ganzer Heerzug von Menschen. Alle waren auf der Flucht vor der Krankheit, alle wollten ins Nachbarland, von dem es hieß, dass es dort Hexen und Magier gebe, denen es ein Leichtes wäre, die Krankheit zu heilen. So widersprüchlich sind die Menschen oft. Sie sind imstande, jahrelang, jahrzehntelang eine Gruppe von Personen zu verfluchen, ihnen die schlimmsten Dinge zu unterstellen, und dann, von heute auf morgen ihre ganze Hoffnung auf ebendiese Personen zu setzen, weil alle anderen herkömmlichen Mittel versagten.
Einen ganzen Tag lang marschierten wir mit dem Zug. Nachts schliefen wir am Straßenrand. Eine nette Familie mit vielen Kindern teilte ihr Essen mit uns und gab uns, als die Dunkelheit kam, eine Decke, damit wir nicht froren. Wir bezahlten ihre Freundlichkeit mit einem Goldstück. Ich sagte es ja bereits, wir wussten nichts von der Welt, auch nichts vom Wert des Goldes, wir hatten zuvor noch nie welches in der Hand gehabt. Als wir am Morgen erwachten, war die nette Familie verschwunden und mit ihr unser Beutelchen mit den restlichen drei Goldstücken. Wir konnten es nicht fassen, diese Leute hatten so freundlich gewirkt! Das waren sie auch, erklärten die Umstehenden, die unser Unglück mitbekommen hatten, aber vier ganze Goldstücke, du lieber Himmel, das war ein Vermögen! Die Versuchung war einfach zu groß gewesen, auch für eine nette Familie.
Damit begannen die Schwierigkeiten. Wir hatten kein Geld mehr und nur noch wenig zu essen. Im Laufe des zweiten Tages erreichte unser Zug den Grenzfluss. Nur eine einzige Brücke führte hinüber ins Nachbarland. Auf der Brücke und entlang des jenseitigen Ufers standen Soldaten, ein ganzes Bataillon. Sie ließen niemanden hinüber. Der Herrscher des Nachbarlandes hatte sie geschickt, damit die Seuche sein Land nicht ebenfalls befiel. Jeder, der versuchte, die Linie der Soldaten zu durchbrechen, wurde gefasst und zurückgeschickt oder gar erschossen. Da hatten sich die Menschen tagelang durch das Land geschleppt, getrieben von der Hoffnung auf Hilfe jenseits des Flusses, und alles, was sie von dort bekamen, waren Gewehrkugeln. Doch nur die wenigsten kehrten um. Die meisten blieben, bauten sich ein Lager aus ihren Habseligkeiten und warteten.
Manchmal kamen wilde Gesellen ins Lager. Sie behaupteten, viele geheime Stellen zu kennen, wo man den Fluss überqueren könne, ohne von den Soldaten geschnappt zu werden. Auch über Boote verfügten sie angeblich. Natürlich nahmen sie nur Leute mit, die ihre Dienste bezahlen konnten. Robert und ich konnten nicht bezahlen, wir hatten nichts mehr. Unsere wenigen Vorräte waren aufgebraucht, wir hatten nicht einmal eine Decke, aus der wir uns ein kleines Zelt hätten bauen können. Tagsüber brannte uns die Sonne auf den Kopf, nachts froren wir. Einmal gab es ein Gewitter. Wir wurden nass bis auf die Knochen, und da war nichts, womit wir uns wärmen oder trocknen konnten. Die Menschen um uns herum hatten selbst genug Probleme, das Schicksal zweier Waisenkinder kümmerte sie wenig.
Ich machte mir Sorgen um Robert. Er war so empfindlich, war es schon immer gewesen. Jovindas Zauber schützte ihn vor der Seuche, doch nicht vor Erkältungen. Seine Nase lief, sein Kopf glühte, seine Lippen waren aufgesprungen. Für eine Nacht kamen wir im Zelt eines freundlichen
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