Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
Ehepaares unter, das seine Kinder an die Seuche verloren hatte. Doch morgens verließen sie das Lager, um mit den wilden Kerlen zu gehen. Leider reiche ihr Geld nicht, sagten sie entschuldigend, um auch für uns die Überfahrt im Boot zu bezahlen. Doch beim Abschied schenkten sie uns eine Decke, etwas Brot und ein paar Äpfel.
Robert ging es schlechter, er hatte nun richtig hohes Fieber, er fantasierte. Aus der Decke und ein paar Stöcken baute ich uns ein winziges Zelt. An einem heißen Nachmittag saß ich unter der Decke, hielt Roberts Kopf in meinem Schoß und flößte ihm etwas Wasser ein, als eine seltsame Aufregung wie eine Welle durch das Lager lief. Das war ungewöhnlich, meistens brüteten die Leute still und teilnahmslos vor sich hin. Doch an diesem Tag gab es ein Gerenne und Geschrei wie schon lange nicht mehr, vor allem Kinder schienen unterwegs zu sein. Ich hörte angestrengt hin, um herauszukriegen, was vor sich ging, als die Decke hochgeklappt wurde. Ein kleiner Junge stand da, den ich flüchtig kannte.
›Eine Hexe‹, japste er atemlos, ›eine Hexe von drüben ist im Lager. Sie sucht Kinder, die nicht die Seuche haben, die nimmt sie mit über den Fluss! Mich hat sie nicht genommen‹, fügte er traurig hinzu, aber das hörte ich nur noch aus der Entfernung.
So sanft es in der Eile möglich war, hatte ich Roberts Kopf auf den Boden sinken lassen und war davongestürzt. Das war unsere Chance! Wir hatten nichts, aber zum Glück hatten wir auch nicht die Seuche. Ich weiß es noch, als wäre es gestern erst gewesen, wie ich durch die Gassen des Lagers rannte, an all den zerfledderten Zelten vorbei, an den Hütten aus Zweigen und Kistenbrettern. Ich musste diese Hexe finden! Was, wenn sie schon fort war, wenn sie aufgegeben hatte, ohne uns zu finden, Robert und mich, die beiden einzigen Lagerbewohner, die ganz sicher nicht infiziert waren! Ich verfluchte unser winziges Zeltchen, das so leicht zu übersehen war, und ich verfluchte die Lagerleute, weil sie es versäumt hatten, der Hexe von uns zu berichten.
In Tränen brach ich aus und weinend rannte ich weiter – dann sah ich sie. Am Südrand des Lagers, vor ein paar mickrigen Bäumchen, die dem Bedürfnis der Lagerleute nach Feuerholz bis jetzt noch entgangen waren, stand eine Kutsche mit zwei schönen, schwarzen Pferden. Eine schlanke, große Frau beugte sich über ein Baby, das eine junge Mutter ihr entgegenhielt. Das Baby schrie wie am Spieß, beide Frauen sprachen beruhigend auf es ein.
›Ich bin nicht krank‹, sprudelte ich atemlos hervor. ›Und mein Bruder auch nicht. Er hat bloß die Grippe. Nicht die Seuche!‹
Die Fremde drehte sich zu mir um. ›Wie heißt du, Kind?‹, fragte sie.
›Mièle‹, antwortete ich. ›Mein Bruder heißt Robert.‹
Die Fremde nickte und wies zu einer umgedrehten Kiste, wo ich sitzen und warten sollte, bis sie Zeit für mich hätte.
›Ich heiße Clarisse‹, sagte sie.«
»Clarisse!«, hauchte der Chor der Rattenkinder. Graviata nahm einen Schluck aus ihrem Becher.
»Auf den ersten Blick war nichts Besonderes an Clarisse. Sie war groß und schlank, hatte braunes Haar, braune Augen. Vom Alter her wirkte sie ungefähr so wie ich heute. Sie trug ein sommerliches Reisekostüm aus rostfarbenem Stoff, der sehr hübsch in der Sonne glänzte. Vermutlich war es Seide und sehr kostbar, doch von so etwas hatte ich damals keine Ahnung. Wie sie so beruhigend auf das Baby einredete, erschien sie mir ganz mütterlich, auch als sie bedauernd den Kopf schüttelte und die Mutter mit ihrem kleinen Kind schluchzend davonging, glaubte ich etwas wie Mitleid in ihrer Körperhaltung zu erkennen. Doch als sie sich zu mir umdrehte und mich forschend betrachtete, war da etwas in ihrem Blick, in ihren Zügen, das mich – nicht warnte, leider nicht –, das mich vorsichtig sein ließ. Ich kannte den Blick von Menschen, die andere gerne beherrschen und die ein kaltes Herz haben.
›Lebt ihr mit euren Eltern hier im Lager, dein Bruder und du?‹, fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf. ›Unsere Eltern sind tot.‹
›Aber sicherlich habt ihr noch Verwandte?‹
Ich schüttelte wieder den Kopf. ›Niemanden‹, sagte ich leise.
Es lag an ihrem Blick. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, ihr von Jovinda zu erzählen, von unserer Tante, zu der wir unterwegs waren, eine Hexe wie sie selbst, von der wir einen Schutzzauber hatten, der uns immun gegen die Seuche machte. Doch nichts von alldem sagte ich.
Clarisse nickte teilnahmsvoll.
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