Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
er.
So hatten wir, Robert und ich, niemanden, der uns Wärme und Freundlichkeit gab, und es blieb uns nichts anderes übrig, als uns gegenseitig zu trösten. Wir waren einander sehr nah. Mein Bruder war mir der wichtigste und liebste Mensch auf der Welt und ich war es für ihn. Er war achtzehn Monate älter als ich, ein dürres, langes Kind, seltsam zerbrechlich, oft kränklich.
Unser Vater hielt nicht viel von ihm, er dachte wohl, ein schwächlicher Junge wie er könne nie den Hof übernehmen. Von mir hielt er auch nicht viel. Ich war zwar stark und gesund, aber ein Mädchen, kein zukünftiger Bauer. Außerdem erfasste mich hin und wieder ein merkwürdiger Widerspruchsgeist, etwas, das er gar nicht schätzte und das mich teuer zu stehen kam.
Als ich etwa neun Jahre alt war und mein Bruder entsprechend älter, brach in der Provinz eine schreckliche Seuche aus. Zu Hunderten starben die Menschen.
Eines Tages waren wir mit unserer Mutter allein in der Küche, als eine junge Frau eintrat. Sie war sehr schön, eine Dame in kostbaren Kleidern, in ihrer Begleitung war eine Katze. Mutter wurde weiß wie die Wand. ›Jovinda!‹, schrie sie und presste sofort beide Hände auf ihren Mund. Da wussten Robert und ich, wer die Fremde war: die geheimnisvolle Schwester unserer Mutter, die Hexe, die Schande über ihre Familie gebracht hatte, die, deren Namen man nicht mehr aussprechen durfte.
›Was willst du?‹, fragte Mutter. Ihre Stimme war dünn vor Angst und Ablehnung.
›Ich will dich von hier fortbringen‹, antwortete Jovinda. ›Dich und diese beiden armen Würmer dort.‹
›Von hier fort?‹, rief Mutter. ›Das ist mein Zuhause! Ein anständiges Heim! Ich habe großes Glück gehabt, es zu finden nach all der Schande, die du über uns gebracht hast!‹
›Glück nennst du das? Armut, Arbeit und ein herzloser Ehemann?‹
›Was weißt du denn schon!‹
›Ich weiß, dass die Seuche euch töten wird, euch alle. Komm mit mir! Oder gib mir wenigstens die Kinder mit!‹
›Niemals! Pack dich aus meinem Haus! Solche wie du haben die Seuche doch erst über uns gebracht!‹
›Das stimmt nicht‹, seufzte Jovinda. ›Und du weißt es. Plapper nicht alles nach, was dein Dummkopf von Mann erzählt!‹
›Verschwinde!‹ Mutters Stimme bebte nun vor Zorn, nicht mehr vor Angst. ›Und pass auf deine Katze auf. Mit der Seuche ist auch der Hunger gekommen. So ein fettes Tier könnte die Leute auf Gedanken bringen!‹
›Evchen kann sehr gut auf sich selbst aufpassen‹, erwiderte Jovinda kühl.
Sie wollte sich zum Gehen wenden, doch hielt noch einmal inne. ›Wenn du schon nicht mit mir kommen willst‹, begann sie zögernd, ›so könntest du mir doch erlauben, dafür zu sorgen, dass du nicht krank wirst.‹
›Untersteh dich und sprich deine Hexensprüche über mich!‹, schrie Mutter.
Achselzuckend wandte Jovinda sich um und trat aus der Küche hinaus. ›Zumindest haben wir es versucht‹, sagte sie zu ihrer Katze.
Mutter sah ihnen nach. Sie kaute an ihrer Unterlippe, wollte etwas sagen, verschluckte sich, hustete. ›Jo… Jovinda!‹, brachte sie endlich hervor.
Jovinda kam zurück. Ohne ein Wort zu sagen, zeigte Mutter mit ihren abgearbeiteten Händen auf uns, auf Robert und mich.
Ihre Schwester verstand.
Ich war damals, glaube ich, erst neun Jahre alt, doch bis heute erinnere ich mich an das Gefühl, als Evchen, die Katze, um meine Beine strich und Jovinda eine Hand über meinen Kopf hielt.
Sie hatte die Augen geschlossen und murmelte etwas in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte. Von meinen Füßen stieg ein Prickeln hoch, ein freundliches Prickeln wie ein leichtes, liebevolles Zwicken, und von oben sank Wärme auf mich herab, süße Wärme wie heiße Milch mit Honig. Es war das schönste Gefühl, das ich bis dahin gehabt hatte, ich hätte ewig so stehen können. Doch es dauerte nicht lange, es war ein kurzer Spruch.
Jovinda trat zurück. ›Ich wohne an der See‹, sagte sie. ›Man muss von hier aus immer nach Westen gehen, dann kommt man hin. Die Stadt heißt Castelmar. Werdet ihr das behalten?‹ Wir nickten. Natürlich würden wir das behalten. Castelmar, das klang nach Verheißung und Glück, nach allem, was wir nicht hatten. Schon damals, in jenem Augenblick, zürnte ich unserer Mutter, dass sie uns nicht mit Jovinda hatte ziehen lassen. Es sollten viele Jahre vergehen, bis ich ihr verzeihen konnte.
Kurze Zeit darauf starb unser Vater. All seine Härte konnte ihm gegen die Krankheit
Weitere Kostenlose Bücher