Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
Sommer ging schon zu Ende, stand ich wieder oben am Gitter der Plattform. Robert kauerte müde im Schatten des Aufgangs, Clarisse räkelte sich auf einem Liegestuhl unter ihrem Sonnensegel. Längst hatten neue Helferlein die Arbeit der verbrannten Kollegen übernommen. Ich stand und schaute zu ihnen hinunter, ohne wirklich etwas zu sehen, als eine ungewohnte Bewegung zwischen den Rosenstöcken meine Aufmerksamkeit weckte. Es war eine Katze. Eine schwarz-weiße Katze. Ich sah sie nur einen Moment, dann war sie verschwunden. Nun ist nichts Ungewöhnliches an einer Katze, die über ein Feld läuft, doch zwischen Clarisses Rosenstöcke hatte sich noch nie eine verirrt. Überhaupt keine Tiere kamen hierher. Mir klopfte das Herz bis zum Hals. Kein Auge tat ich zu in der darauffolgenden Nacht. Zu Robert sagte ich kein Wort. Ich hatte Angst, dass er eine Enttäuschung nicht verkraften würde.
Und dann ging alles ganz schnell. Am nächsten Vormittag, als Clarisse kam, um Robert abzuholen, huschte eine Katze mit ihr ins Zimmer. Clarisse holte aus zu ihrer üblichen Befehlsgeste – und fror ein. Mitten in ihrer Bewegung fror sie ein. Ihr wisst, wie mächtig Evchen ist, ihr habt erlebt, was sie mit der Zeit anstellen kann. Clarisse stand da, ein wenig nach vorn gebeugt, den Arm ausgestreckt, den Mund geöffnet, eine Statue aus Fleisch und Blut, bewegungslos, hilflos.
Und ich stand vor ihr, noch ein Kind, doch ich schwöre euch, wenn ich etwas gehabt hätte, um sie zu töten, irgendetwas, ein Messer, ein Beil, eine Flinte, ich hätte sie getötet. Aber wir hatten bloß Holzlöffel, Sprechende Bücher, eine Kiste voller Plüschtiere und unseren Hass.
Evchen drängte zur Eile. In unseren Gedanken fühlten wir ihre Unruhe. Sie wusste nicht genau, wie lange sie die Zeit erstarrt halten konnte, Clarisse war eine ernst zu nehmende Gegnerin.
Also hakten wir die Schlüssel aus ihrem Rockbund, holten die Tränenfläschchen aus dem Versteck, hasteten die Treppe hinunter und verließen den Turm.
Draußen war es ganz still. In den Feldern hingen erstarrte Helferlein wie vom Frost überraschte Heuschrecken. Beim Bewässerungshäuschen stand die Magd starr über ihren Besen gebeugt. Wir fanden den Einfüllstutzen und leerten die Tränenfläschchen in das Reservoir. ›Für Mannis, Olivia, Pedro, Lavinia, Eshrem, Cassio, Rosa und alle, deren Namen niemand mehr kennt‹, riefen wir. Danach zerschmetterten wir die Fläschchen an der Wand. Das war ein gutes Gefühl.«
»Für Mannis, Olivia, Pedro, Lavinia, Eshrem, Cassio, Rosa und alle, deren Namen niemand mehr kennt!«, schrien die Rattenkinder und schmetterten ihre leere Weinflasche an den Stamm der alten Eiche. Graviata drohte ihnen milde mit dem Finger.
»Vor dem Haus wartete eine Kutsche. Jovinda hielt den Wagenschlag auf und trieb uns hinein. Wir hatten noch nicht Platz genommen, da galoppierten die Pferde los, als wären Dämonen hinter ihnen her.
Jovinda und Evchen waren zu dem Schluss gekommen, dass man eine so mächtige Feindin wie Clarisse nicht aus der Ferne bekämpfen konnte. Man musste über jeden ihrer Schritte informiert sein. Also fuhren wir nicht nach Castelmar, sondern zu einem schmalen Stadthaus in der Nähe des Hauptmarktes, das Jovinda gemietet hatte. Dort verbrachten wir die nächsten Monate. Jovinda eröffnete ein Hexenatelier, nichts Großes, nur gewöhnliche Liebes- und Gesundheitszauber und hin und wieder ein Sprechendes Buch auf Bestellung.
Evchen beschützte uns vor Clarisse.
Die suchte uns, natürlich tat sie das. Sie suchte im ganzen Land und überall in der Stadt. Sogar in Jovindas Haus kam sie, stand nur wenige Schritte von Robert und mir entfernt, nur eine dünne Wand trennte sie von uns. Doch wir blieben verborgen unter Evchens Zauberschleier, Clarisse konnte uns nicht wahrnehmen.
›Sieh dich ruhig um‹, hörten wir Jovinda mürrisch zu ihr sagen. ›Würde mich wundern, wenn du hier Kinder fändest.‹ Clarisse sah sich um und verließ unverrichteter Dinge das Haus. Doch sie war misstrauisch, das konnten wir fühlen.
Aber dann bekam sie andere Probleme und musste die Suche nach uns vorerst verschieben. Ihre Rosen welkten. Alle ihre wundervollen Rosen welkten dahin und entfalteten während ihres Sterbens einen pestilenzartigen Gestank. Die Bauern im Umkreis des Rosenhauses beschwerten sich beim Magistrat, weil ihnen, wie sie sagten, das Vieh auf den Weiden wegen des Gestanks krank würde. Clarisse wurde verurteilt, für den Schaden
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