Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
sie glaubte zu wissen, dass sie ausgeglichene, ruhige Menschen waren, strebsam, offen für alles Neue und sehr, sehr klug. Zwar hatte sie Schwierigkeiten, sich ihren Bruder Damiano so vorzustellen. Er war viel zu wild und aufbrausend, um in dieses Bild zu passen, aber vielleicht gab es ja auch wilde Gelehrte. Doch wie auch immer, Rafaela hatte bestimmt recht, er lebte in der Akadamie, er hatte massenhaft kluge Bücher zu seiner Verfügung und er konnte sie lesen. Einen Versuch war es wert. Lulu fühlte sich besser, viel besser. Es tat gut, nicht mehr die Einzige zu sein, die sich Sorgen machte und über Geheimnissen grübeln musste.
»Wir schaffen das schon«, sagte Rafaela zuversichtlich.
Als sie endlich weiterfuhren, war der Nachmittag schon fortgeschritten. Rafaela und Lulu lösten ihre Mutter auf dem Kutschbock ab. Lulu war sehr stolz, dass sie kutschieren durfte, sie kam sich erwachsen vor, verantwortungsvoll. »Ho!«, rief sie gewichtig, »He!« oder »Brr!« und ließ die Peitsche knallen. Erst als gegen Abend die ersten Häuser der Stadt auftauchten, übernahm Graviata wieder die Zügel.
Sie fuhren durch die Randgebiete, zur Stadtmitte, zum Hauptmarkt. Immer mehr Fuhrwerke ratterten um sie herum, Fußgänger drängten sich auf den Gehwegen, und oft genug überquerten sie die Fahrbahn, ohne sich im Geringsten um die Pferdekutschen zu kümmern. Kinderbanden wuselten um die Fuhrwerke, hängten sich hinten an und fuhren lachend und schreiend ein Stück mit. Man musste ein geschickter Kutscher sein, um sich in dem Durcheinander zurechtzufinden und keinen Unfall zu verursachen.
Lulu war schon zweimal mit ihrer Mutter in der Stadt gewesen. Sie liebte den Markt, seine Gerüche, die Farben, die seltsamen Waren, das Geschrei der Verkäufer, die Flüche der Kutscher, die im Gedränge nicht vorankamen. Sie dachte, dass sie nun herkommen konnte, so oft sie wollte, und war ziemlich froh darüber. Viele der Marktfrauen kannten Graviata und winkten. Einige warfen den Kindern kleine Geschenke zu, Bonbons, Äpfel und diese wundervollen Früchte mit der harten, bitteren Schale und dem wunderbar süßen Fruchtfleisch, deren Namen Lulu sich einfach nicht merken konnte.
Langsam verließen sie das Gebiet der Innenstadt, den Markt und die engen, vollen Gassen und gelangten ins Regierungsviertel. Hier war keines der Kinder je gewesen. Die breiten Straßen waren prachtvoll, schnurgerade, menschenleer, gesäumt von riesigen Gebäuden, viele davon mit Säulengängen, schmiedeeisernen Zäunen, leuchtenden Messingspitzen, goldblitzenden Türmchen, Steinfiguren und Springbrunnen in den Vorgärten.
Sie umrundeten einen kreisförmigen Platz, in dessen Mitte ein riesiger, steinerner Mann aufragte. Dahinter wurde die Straße noch breiter. Von Bäumen gesäumt, führte sie auf ihr majestätisches Ziel zu – den Königspalast. Lulu und Rafaela kannten ihn natürlich von Bildern und aus den Erzählungen ihrer Mutter, aber ihn jetzt so wirklich vor sich zu sehen war schon etwas anderes. Kalt und weiß und prächtig ragte er am Ende der Allee vor ihnen auf. Lulu bekam Gänsehaut auf dem Kopf, bis ihr widerspenstiges Haar nach allen Seiten abstand. Vor dem Palast breitete sich ein schier endloser Platz aus. Ebenfalls weiß – und völlig leer. Die einzigen Farbkleckse waren die blau-goldenen Kordeln, die den Platz von der Straße abtrennten, und ein paar Soldaten. Die Palastwache in blau-goldenen Uniformen patrouillierte in gemessen feierlichen Schritten. Wahrscheinlich war es ihre Aufgabe, zu verhindern, dass ein gewöhnlicher Mensch den Platz betrat und ihn mit gewöhnlichem Dreck verunreinigte.
Graviata hielt den Wagen an und stieg ab. Ein Soldat mit besonders viel Gold an der Uniform trat auf sie zu, die beiden wechselten ein paar Worte. Der Soldat drehte sich um, bellte einen Namen. Aus der Gruppe seiner Leute rannte ein junger Mann herbei, verbeugte sich ehrerbietig vor Graviata und etwas weniger tief, doch immer noch ehrerbietig vor den Kindern. Rafaela wurde rot vor Verlegenheit, und Lulu fing nervös an zu kichern, doch ein strenger Blick von Graviata ließ sie das Kichern in den Hals zurückstopfen, worauf sie dann einen Schluckauf bekam. Der junge Soldat kletterte auf den Kutschbock und nahm die Zügel. Sie fuhren am Platz entlang bis zu seinem Ende und gelangten dort in eine schmale, gepflasterte Gasse, die zwischen zwei hohen, glatten Mauern verlief. Von Pracht keine Spur.
»Wo bringt er uns denn hin?«, fragte Rafaela
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