Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
überschüttete sie Dven mit Fragen nach dem Mann mit der riesigen Ratte, doch Dven war müde. Selbst ausgeruht war er nicht gerade einer der Hellsten, jetzt aber verstand er so gut wie überhaupt nicht, was man von ihm wollte. Lulu ging in ihrer Verzweiflung dazu über, ebenfalls alle Zischlaute wegzulassen, und vielleicht war es das, was schließlich half. Auf jeden Fall huschte über Dvens altes Gesichtchen so etwas wie Erkenntnis. Doch zum Entsetzen der Mädchen schüttelte er den Kopf.
»Kann eud nid hinbringen«, sagte er und setzte sich auf den Boden. »Hätt nie darüber reden dürfen. War ein groder Fehler.«
»Du kannst uns nicht hinbringen? Warum denn nicht?«, rief Rafaela empört. »Du bringst doch alle überallhin. Das ist dein Job! Einen großen Fehler machst du, wenn du uns nicht hinbringst!«
Doch Dven schüttelte nur störrisch den Kopf. Sie versuchten ihn zu bestechen, versprachen ihm Gold, feine Sachen zum Essen, Süßigkeiten, boten ihm an, ihn mitzunehmen, wenn sie eines Tages von hier fortgingen, doch Dven blieb stur. Lulu wollte gerade schrecklich wütend werden, am liebsten hätte sie ihn getreten und geschlagen und gezwickt, als sie im Laternenlicht sah, dass der Kleine weinte. Erschrocken über sich selbst kauerte sie sich neben ihn.
»Was ist denn nur mit dir, Dven?«, fragte sie und zu ihrer Verblüffung lehnte der Kleine seinen Kopf an ihre Schulter und weinte bitterlich. Wanda und Rafaela hockten sich zu ihnen, Rafaela gab Dven ihr Taschentuch. Er wusste nicht, was man damit tat, doch er nickte dankbar, steckte es in den Hosenbund und schnäuzte geräuschvoll auf den Boden.
»Id hätt do gern Düdigkeiten gehabt«, schluchzte er sehnsüchtig. Die Mädchen sahen sich an und begannen wie auf Kommando, ihre Taschen durchzuwühlen. Lulu fand nichts, sie futterte alles Süße, das sie bekam, immer gleich weg. Aber Wanda und Rafaela förderten je zwei Bonbons zutage und reichten sie Dven. Er stopfte sie in den Mund, alle vier auf einmal, und grinste selig, während er kaute und ihm die Spucke übers Kinn lief. Diese alten Bonbons schafften, was alle Versprechungen vorher nicht geschafft hatten. Dven erzählte, wenn man sein Gestammel so bezeichnen will, dass die Rattenkinder einem verletzten Mann geholfen hätten, weil er so ein lustiges Tier besaß, das sie alle zum Lachen brachte, eine Ratte mit wunderschönem Pelz und einem langen, flauschigen, gestreiften Schwanz. Die komische Ratte wusch alles, was sie aß, und wenn sie etwas nicht waschen konnte, aß sie es nicht.
»Wir haben den Mann und die Ratte und den Kleinen verdeckt«, berichtete Dven. »In underem Geheimverdeck. Niemand kennt under Geheimverdeck. Die anderen Kinder bringen mid um, wenn id eud hinführe.«
»Wir alle drei schwören dir«, sagte Rafaela feierlich, »dass wir euer Geheimversteck niemals verraten werden, solange wir leben. Wenn du uns hinführst, wird niemand dich umbringen, und du wirst für immer unser Freund und unser Held sein.«
»Ich schwöre!«, wiederholten Lulu und Wanda und legten zur Bekräftigung drei Finger auf ihre Herzen. Da packte Dven seine Laterne und führte sie durch das Labyrinth.
Es war ein langer Weg. Dven mied die breiten Hauptkanäle, fast immer krochen sie durch schmale, niedrige Gänge, einmal mussten sie sogar auf allen vieren kriechen. Das war ekelhaft. Schon nach kurzer Zeit hatten die Mädchen jede Orientierung verloren. Siedend heiß überfiel Lulu ein grauenhafter Verdacht: Was, wenn Dven sich nur zum Schein bereit erklärt hatte, sie zum »Geheimverdeck« zu führen? Wenn er das in Wirklichkeit gar nie vorgehabt hatte, sondern sie stattdessen immer tiefer in das Labyrinth führte und sie dann irgendwo allein ließ? Sie würden nie zurückfinden, ihre Laterne würde irgendwann verlöschen und in Hunderten von Jahren würde jemand zufällig über die sauber abgenagten Knochen von drei jungen Mädchen stolpern! Doch gleich kämpfte sie ihre Panik nieder. Ganz sicher verfügte Dven nicht über genügend Grips, um sich so einen abgefeimten Plan auszudenken. Rafaela griff nach ihrer Hand.
»Wir haben die Amulette«, flüsterte sie. »Mama hat gesagt, dass sie uns beschützen.« Lulu nickte und wusste, dass Rafaela die gleichen Befürchtungen hatte wie sie selbst. Und die gleichen Hoffnungen. »Und sie hat auch gesagt, die Amulette würden uns beschützen, wenn sie es nicht mehr kann, und dass wir uns immer wiederfinden, wenn wir uns mal verlieren.«
Damiano trug sein Amulett
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