Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
jetzt ebenfalls. War er der verletzte Mann, den die Rattenkinder versteckten? Und dann hatte Dven noch einen Kleinen erwähnt. Wen hatte er damit gemeint? Keines der Mädchen traute sich nachzufragen, sie wollten ihre Hoffnung noch ein Weilchen behalten.
»Wir dind gleid da«, sagte Dven. Das hatte er bereits mindestens fünfmal gesagt, doch diesmal fügte er hinzu: »Vordid! Ed geht deil bergab!« Und schon machten alle einen Schritt ins Leere, stolperten, verloren das Gleichgewicht und kugelten einen glitschigen, steinigen Abhang hinunter. Lulu glaubte entsetzt, dass sich ihr schrecklicher Verdacht gegen Dven nun doch noch bewahrheitete, und krallte sich fallend in ihm fest. So stürzte er mit ihnen und konnte sich nicht ohne sie davonmachen. Sie landeten in einer ekligen Pfütze. Zischend verlöschten ihre Laternen.
»O Mist, so ein Dreckmist!«, fluchte Wanda.
»Deide«, sagte Dven.
Lulu und Rafaela hatten auch ein paar ordentliche Flüche auf Lager. Sie spuckten und husteten und schüttelten sich und stellten erleichtert fest, dass keine von ihnen verletzt war.
»O Dven, du Missgeburt!«, schimpfte Wanda. »Hättest du uns nicht früher warnen können? Was sollen wir jetzt tun, pitschenass, ohne Laternen im Stockdunklen?«
Doch es war gar nicht so stockdunkel. Vor ihnen öffneten sich die Wände zu einem großen Raum, einer Art Höhle, wo ein Feuer brannte, das zu ihnen herausleuchtete. Sogar frische Luft kam von irgendwoher. Und Stimmen, viele Kinderstimmen. Einige sangen Gassenhauer, Hintertreppenlieder, die zurzeit gerade in Mode waren.
»Geheimverdeck«, sagte Dven stolz.
Die Mädchen fassten sich bei den Händen und traten durch die Öffnung, Rafaela zuerst, dann Lulu, dann Wanda. Der Gesang verstummte.
Es war eine große Höhle. In der Mitte brannte ein Feuer, und es musste auch eine Art Kamin geben, denn der Rauch zog ab, vernebelte nicht alles. Es roch nach altem Schmutz und Ruß, gebratenem Fleisch und ungewaschenen Kindern. Fast alle hockten ums Feuer herum und hielten Stöcke oder Spieße darüber, an denen irgendwelches scharf riechendes Fleisch hing, Ratte vermutlich. Die Mädchen unterbrachen mit ihrem Auftritt die Nachtmahlvorbereitungen. Die Rattenkinder starrten mit offenen Mündern auf die vier Gestalten, die so plötzlich in ihrem Geheimversteck aufgetaucht waren, doch dann sprangen die Mutigsten auf und schwenkten drohend ihre Bratspieße.
»Wir müssen furchtbar aussehen«, dachte Lulu, »ganz schwarz, von oben bis unten voll ekligem Schlamm aus der Pfütze. Wahrscheinlich halten sie uns für Dämonen.«
Jetzt bloß nichts Falsches sagen, dachte Lulu. Am besten gar nichts. Wenn sie unsere Stimmen hören, ist es aus, dann wissen sie, dass wir nur Mädchen sind. Aber warum zum Henker sagt Dven nichts? Doch mit ihm war nicht zu rechnen. Feige duckte er sich hinter sie.
Da trat noch jemand in die Reihe der Bratspießschwinger. Er war größer als die anderen und sein Schritt war schwer und mühsam. Auch schwenkte er seinen Spieß nicht, sondern stützte sich auf ihn. Seine Beine wirkten völlig unförmig, etwas hing daran: Zwei kleine Gestalten umklammerten die Beine des Mannes, die eine Gestalt war pelzig und die andere war ein kleines Kind.
»Bumbum?«, fragte das Kind unsicher.
»Bumbum!«, schrien Lulu und Rafaela und rannten auf den Kleinen zu. Der ließ das Bein des Mannes los und stolperte ihnen entgegen. Sie breiteten die Arme aus und drückten ihn und küssten ihn und lachten und weinten und rollten mit ihm über den Boden. Der Mann ließ seinen Spieß fallen und hüpfte hinkend mit ihnen durch die Höhle. Der Mann war Damiano und der Pelzige war Ralf.
Sie tobten noch eine Weile herum und ließen sich dann inmitten der erstaunten Rattenkinder am Feuer nieder.
»Wir sind wieder zusammen«, sagte Rafaela, als sie zu Atem gekommen waren. »Graviatas Kinder sind wieder zusammen.« Sie berührten ihre Amulette.
»Mama ist eingesperrt«, sagte Lulu mit dünner Stimme. »Im Felsenkerker.«
»Ich weiß«, antwortete Damiano düster. »Ich hab sie gesehen, als ich ging.«
»Wieso bist du frei?«, fragte Wanda. »Und wie bist du an Bumbum und dieses Vieh geraten?«
Das Vieh lag auf dem Rücken, alle viere von sich gestreckt, und ließ sich von Lulu den Bauch kraulen. Dabei gab es kleine grunzende Laute des Wohlbehagens von sich und wedelte hin und wieder mit einer Pfote, um zu zeigen, wo es besonders guttat. Die Rattenkinder kicherten entzückt.
»Das ist Wanda, unsere
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