Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
zum Einschlafen bringen und morgen früh wäre vielleicht alles wieder gut.«
»Morgen früh«, sagte Rafaela in einem Ton, als wären es hundert Jahre bis dahin.
»Was haben die Kinder gespielt?«, fragte Lulu. »Jetzt überleg doch mal«, beharrte sie, als Wanda nur verständnislos schaute. »Die Kinder in der Gasse, die du gesehen hast. Du hast doch eine Weile mit Bumbum am Rand der Luke gesessen. Da habt ihr doch bestimmt zu den Kindern hingeschaut.«
»Ach, die Kinder! Die spielten mit Kugeln. Kleinen gläsernen Kugeln. Manche davon sind sehr bunt und schön. Ich hatte als Kind auch mal ein paar. Eine besonders schöne ist der König. Man kullert die Kugeln gegen eine Hauswand. Wenn man die Kugel eines Mitspielers trifft, darf man die einstecken, und wenn man den König trifft, darf man alle einstecken.«
»Na also!«, rief Lulu. »Bumbum liebt diese Glaskugeln. Vermutlich war Else länger unten, als sie zugeben will. Bumbum ist zu den Kindern gelaufen und die haben ihn mitgenommen. Wir müssen die Kinder finden, dann haben wir auch Bumbum.«
Sie ging zur Luke, packte den Eisenring und zog wie eine Verrückte. Der Deckel bewegte sich kaum. Rafaela half ihr, gemeinsam schafften sie es.
»Was habt ihr vor?«, rief Wanda alarmiert. »Bleibt hier, sonst verlieren wir euch auch noch!«
»Wir suchen Bumbum. Zeig uns die Gasse, wo ihr ihn verloren habt!«
»Da haben wir doch schon alles abgesucht! Jetzt ist es Nacht. Was ihr vorhabt, ist sinnlos!«
Aber Lulu und Rafaela waren nicht aufzuhalten. Sie hasteten die Leiter hinunter.
»Ihr habt ja nicht einmal ein Licht!«, rief Wanda, nahm eine Fackel aus der Wandhalterung, überlegte es sich anders und klaubte die kleine Laterne auf, die sie bei ihrer Ankunft im Hippodrom achtlos zu Boden hatten fallen lassen. »Eine Fackel bringt die Gase da unten vermutlich zum Explodieren«, brummte sie ärgerlich, zündete das kleine Ding an und hastete den Mädchen hinterher.
Unten war es immer noch so dunkel und glitschig und stinkend wie vorher. Die Schwestern verharrten ratlos, doch Wanda pfiff schrill auf zwei Fingern und leichte Schritte näherten sich. Eine Laterne wackelte um die Ecke, dann ihr Träger. Es war der kleine, bleiche Dven. Anscheinend hatte er die ganze Zeit hier unten gewartet.
Wanda erklärte ihm, wo sie hinwollten, und er huschte widerspruchslos vor ihnen her.
»Geht er denn nie heim?«, erkundigte sich Lulu.
»Er ist daheim«, erklärte Wanda. »Er ist ein Rattenkind. So nennt man sie. Manfredo hat’s mir erklärt. Früher war er auch eins. Es sind Kinder ohne Eltern und ohne Geld. Sie werden von der Bruderschaft der Räuber und Diebe aufgezogen. Wenn sie alt genug sind, müssen sie für ihren Unterhalt arbeiten, das heißt, sie leben im Kanalsystem und führen jeden durch, der das Losungswort weiß oder ihnen persönlich bekannt ist. Niemand kennt die Kanäle und die Tunnels so gut wie sie, höchstens die Ratten vielleicht. Wenn sie ihre Arbeit eine Weile lang gut gemacht haben, dürfen sie hinauf und selbst Diebe oder Räuber werden.«
»Das ist ja schrecklich«, rief Lulu, »immer in diesem Gestank leben zu müssen.«
»Sie sind dran gewöhnt«, meinte Wanda. »Aber Manfredo hat gesagt, dass manche von den Kindern blöd im Kopf werden. Wegen der Dämpfe. Ich fürchte, bei Dven ist es bald so weit. Hast du bemerkt, wie seltsam er spricht?«
Lulu hatte großes Mitleid mit Dven. Unter anderen Umständen hätte sie sofort einen Plan entwickelt, um den Rattenkindern zu helfen, und vermutlich hätte dieser Plan so ausgesehen, dass sie ihre Mutter gedrängelt und genervt hätte, bis diese sich etwas zur Rettung der Kinder hätte einfallen lassen. Lulu kämpfte gegen ihre Tränen an. Vermutlich waren sie und Rafaela in einer schlimmeren Lage als die Rattenkinder. Die wussten wenigstens, wo sie hingehörten, und sie hatten so etwas wie eine Zukunft. Lulu und Rafaela hatten bloß eine Vergangenheit und jede Menge Sorgen.
Tapfer sein, dachte Lulu, Bumbum finden, immer einen Schritt nach dem anderen. Nicht daran denken, dass Mama und Damiano im Kerker sitzen und die Tiere auch und dass Bumbum in diesem Augenblick vielleicht durch die Nacht stolpert, ganz allein, mit niemandem, der ihn versteht, mit niemandem, der auf ihn aufpasst, bloß mit einer gelben Stoffente. Nein, nicht daran denken. Er wird da sein. Er wird genau dort sein, wo sie ihn verloren haben, und darauf vertrauen, dass wir ihn abholen.
Je näher sie der Stelle kamen, desto sicherer war
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