Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)
geschlossen, doch er befürchtete seit dem ersten Tag, er würde in London verhungern. Das trockene Brot musste er unzählige Male kauen, bis er es herunterwürgen konnte, es kam selten Fleisch auf den Tisch des Wollhändlers, und für Gewürze hatte Olivia keine Verwendung. Das Gemüse schmeckte fade und der Fisch muffig.
Als er das Brot aus dem Tuch wickelte, sah er Benthe und ihre Mutter Amilia vor sich, die den Teig kneteten und sich mit mehligen Fingern die Haare aus der Stirn strichen. Die Erinnerung schmerzte und die Sehnsucht nach seinem Zuhause war größer denn je. Neben einem Stück geräucherten Schinken lag in der Kiste ein Brief, der nach Zitrone und Tabak roch.
Nik las die Schilderung seines Vaters von den Geschäften der letzten Wochen. Jan van Leeuwenhoek war mehrmals im Hafen gewesen, und seine Frau hatte das erste gesellige Abendessen in ihrem Haus veranstaltet, seit Matthijs und Claas beerdigt worden waren. Es war nicht so fröhlich wie früher gewesen, aber seine Mutter hatte darauf bestanden, es auszurichten. Nik stellte sich vor, wie die Gäste früher in ihren bunten Kleidern um den Tisch gesessen hatten, hörte die fremdländischen Namen und ihre Akzente und roch beinahe die wundersamen Speisen, obwohl er in einem kleinen Fachwerkhaus in London saß.
Zum Schluss beschrieb sein Vater, wie schmerzhaft die Trauer noch immer auf seiner Brust lag und ihm das Atmen schwer machte. Er wollte wissen, welche Fortschritte Nik bei der Suche nach der außergewöhnlichen Glaskugel gemacht hatte. Es klang sehr dringlich. Nik ließ sich seufzend auf einen Stuhl fallen und stützte den Kopf auf die Hände.
Er hatte überhaupt keine Ahnung, wo er in dieser großen fremden Stadt anfangen sollte, nach dem geheimnisvollen Glasermeister und dessen Kunstwerken zu suchen.
Am letzten Sonntag im September, der allen Engeln gewidmet ist, läuteten die Glocken der St. Paul’s Cathedral über den Häusern von London und riefen die Menschen in die alten Mauern zum Gottesdienst. Als Nik mit den Chadwicks die Kathedrale erreichte, blieb er staunend vor dem Eingang stehen. Über ihm war kaum Himmel zu sehen. Wie eine Burg für Riesen ragte der Turm in der Mitte der Kirche in die Höhe. Die Fenster waren von breiten gemauerten Säulen umrahmt, die er auch mit ausgestreckten Armen nicht umfassen konnte. Ein Stein löste sich über dem Portal und fiel zwischen zwei Kindern auf die Erde. Die beiden sprangen kreischend zur Seite. Nik schlug entsetzt die Hand vor den Mund, doch die Londoner hielt der Vorfall nicht davon ab, in die Kirche zu strömen. Die nachfolgenden Männer und Frauen zertraten den zerschmetterten Stein zu feinem Staub.
Putz fiel bröselnd neben Nik herunter und er nieste.
Er wich ein paar Schritte zurück und starrte noch einmal nach oben. Der marode Zustand der Mauern nahm der Kirche nichts von ihrem erhabenen Glanz. Die flackernden Kerzen in ihrem Inneren schimmerten durch die Fenster und der Gesang der Priester hallte von den mächtigen Wänden.
Nik zog es in die Kathedrale. Er eilte die Treppe hinauf und trat in den Vorraum. Hier drängelten sich Frauen mit Körben voll Brot und Äpfeln und Bettler, die ihre schmutzigen Hände ausstreckten. Nik legte die Hand auf seine Hüfte und tastete nach dem Geldbeutel an seinem Gürtel. Schnell bahnte er sich einen Weg durch die Menschenmenge zum Hauptschiff der Kirche. Dort schallte der lateinische Gesang der Geistlichen von den Wänden, doch die Menschen unterhielten sich nicht weniger laut als im Vorraum. Nik sah Frauen und Männer tratschen und kichern. Andere besiegelten Geschäfte mit einem Handschlag oder stritten mit kaum gesenkten Stimmen. Neben ihm stand eine Gruppe junger Männer in feinen Mänteln und verhandelte über eine Ladung Tee, die einer von ihnen aus Indonesien eingeschifft hatte.
Nik trat an die Wand, wo die Alten auf Holzbrettern hockten und mit zahnlosen Mündern selig den Altar betrachteten. Nik fand den Grund für ihre glücklichen Gesichter: Die aufgehende Sonne hatte sich durch die dicken Wolken gekämpft und ließ die vergoldeten Leuchter und Säulen erstrahlen.
Langsam durchquerte Nik das Hauptschiff und gelangte schließlich in den westlichen Teil der Kathedrale. Hier war mehr Bewegung und die Menschen eilten flüsternd von einem zum anderen. Die Mäntel waren schmutziger und es roch nach altem Fisch und verfaultem Obst.
Er hörte junge Stimmen und ein leises helles Klirren und drehte sich um. In einer Seitenkapelle hockten
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