Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)
Verurteilten unter dem Galgen. Obwohl Nik die fremde Sprache nicht verstehen konnte, erkannte er zwei Namen in den Beschuldigungen des Mannes. Der erste klang englisch: Albert Locke. Doch der andere war ein deutscher Name, der ihn mit Schrecken an ein Gespräch in einem Amsterdamer Keller erinnerte: Conrad Leipniz. Nik stockte der Atem, während die Menge zu lautem Gebrüll anhob. War Conrad der Name des Mannes am Galgen oder hatte er an ihm ein Verbrechen begangen? Nik war sich nicht mehr sicher.
Er stellte sich auf Zehenspitzen und suchte nach anderen Beteiligten wie Zeugen oder einem Richter. Doch niemand griff in das Geschehen ein und die Menschen um ihn herum wurden immer lauter. Sie reckten die Fäuste in die Luft und manche warfen verdorbene Früchte auf den Mann, der die Anklage mit gesenktem Kopf erduldete. Der Henker raffte seine Kutte und stieg auf die Bretter, die wie eine Bühne unter den Galgen gezimmert waren.
Der Verurteilte öffnete die Augen, aber er schwieg weiterhin.
Der Henker leierte eine Formel herunter und sah den Verurteilten dabei nicht einmal an. Nik schluckte.
Wieder fiel der Name Conrad Leipniz, danach der von Albert Locke. Der Verurteilte schluchzte auf und weinte dann stumm.
Falls sein Name Albert war, wurde er anscheinend für ein Verbrechen an einem Mann namens Conrad hingerichtet.
Die Gedanken überschlugen sich in Niks Kopf. Er versuchte, sich genau an die Szene im Keller zu erinnern. Hatte Heinrich den Mord an Conrad zugegeben oder hatte er nur davon berichtet? Wurde ein Unschuldiger gehängt oder der Mörder für die hinterlistige Tat bestraft? Nik biss sich auf die Unterlippe und kniff die Augen zusammen. Wie viele Männer mit dem Namen Conrad konnten in einer Stadt wie London leben? Aber war es nicht unwahrscheinlich, dass kurz hintereinander zwei von ihnen Opfer eines schweren Verbrechens wurden?
Der Henker ließ den Arm sinken und trat mit dem Fuß gegen den Schemel unter den Füßen von Albert Locke.
»Nein!«, schrie Nik. Er konnte nicht aufhören zu schreien und hörte seine Stimme im Tumult der Meute doch nicht.
Die Menschen triumphierten und klatschten und zerstreuten sich in alle Himmelsrichtungen, als Albert Locke erstickt war und aufhörte, mit Armen und Beinen zu zappeln. Nur ein Mädchen stand stumm neben dem Galgen, die Hand vor den Mund gepresst. Sie ließ sich nicht mitreißen von den Männern, Frauen und Kindern, die sich über den Markt verteilten. Durch die großen Augen wirkte sie jünger, als sie vermutlich war, und ihr langes rotes Haar hing ihr in zerzausten Strähnen über die Schultern und hatte vermutlich seit Wochen keinen Kamm mehr gesehen. Ihr stummes Entsetzen ließ eine Traurigkeit in Nik aufsteigen, die ihm nur zu bekannt war. Nik wusste nicht, warum, aber er musste das Mädchen aus der Nähe sehen. Irgendetwas in ihrem Gesicht berührte ihn und zog ihn an. Er stieg von seinem wackeligen Ausguck herunter und ging auf sie zu. Aber die Menge drängte ihm entgegen und trieb alle Menschen zurück zu den Ständen der Händler. Nik stellte sich immer wieder auf die Zehenspitzen und spähte über die Köpfe zu dem Mädchen hinüber. Mit den Ellenbogen drängelte er sich stetig auf den Galgen zu und erhaschte einen Blick auf das ungewöhnliche Gesicht. Ihre Augen funkelten schwarz und ihre Wangen schienen mit kleinen Narben übersät zu sein oder sie waren seit langer Zeit nicht mehr gewaschen worden. Nur noch wenige Schritte trennten ihn von dem Mädchen, als jemand nach seinem Arm griff.
»Nicolaas!«
Nik drehte sich um und sah in das rote Gesicht eines wütenden Wollhändlers. »Es tut mir leid, Mijnheer Chadwick. Ich habe Euch verloren.«
»Sag Joseph zu mir und bleib dicht hinter uns. Noch mal suchen wir dich nicht.« Mit diesen Worten stapfte er zurück zur Straße.
Nik sah noch einmal zum Galgen, aber das Mädchen war verschwunden. Dann folgte er den Männern durch London.
Auf den größeren Straßen waren viele Fuhrwerke und Kutschen unterwegs, die sich immer wieder gegenseitig den Weg versperrten. Nik schnappte die ersten englischen Flüche auf. Die Karren, die auf dem Weg zum Markt oder zum Hafen waren, rochen nach Muscheln oder Fisch und verschiedenen Früchten. Doch über der ganzen Stadt lag ein dichter Nebel aus verbranntem Torf und Kohle, der in Niks Hals kratzte und ihn immer wieder husten ließ. Er wünschte, er könnte auf einen der unzähligen Kirchtürme klettern und sich London von oben ansehen. Die verwinkelten Gassen
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