Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)
ohne Schlieren oder Risse, wie sie es sonst gewohnt war. Die Rahmen waren aus weißem, braunem oder schwarzem Holz geschnitzt und mit zierlichen Blättern oder Ranken verziert. Sie riss sich von den Kunstwerken los und sah über den Spiegeltisch in das Gesicht des Künstlers.
Die blauen Augen von Heinrich Sehfeld und sein Lächeln ließen die glatte Haut und den drahtigen Körper des Mannes noch jünger erscheinen. Zusammen mit dem weißen Haar verlieh ihm das ein geheimnisvolles Aussehen.
Heinrich stellte eine Kerze in einer Schale auf den Tisch zwischen sie. Er entzündete sie mit einem Span und der Duft von Honig zog durch den Raum.
Das kleine Licht der Kerze flackerte unzählige Male in den Spiegeln an der Wand und in jeder einzelnen Scherbe auf der Tischplatte zwischen ihnen.
Carmen spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen. Früher war sie von schönen Gemälden, Möbeln und Worten umgeben gewesen. Wie hatte sie das alles aufgeben können für ein Leben an der Seite eines Mannes, dessen Welt nur aus Zahlen und Listen bestand?
Heinrich betrachtete sie schweigend.
Als sie sich wieder gefangen hatte, sah sie ihm in die Augen. »Nehmt Ihr ein paar Mädchen als Lehrlinge auf, Mijnheer Sehfeld?«, fragte sie mit fester Stimme.
Er nickte lächelnd.
»Und verkauft Ihr mir einen dieser wunderschönen Spiegel?«, bat sie und erhob sich.
Er schüttelte den Kopf. »Ich arbeite nur auf Bestellung.«
Sie fragte sich, ob seine Stimme schon zu Beginn ihres Gespräches so warm und süß geklungen hatte wie der Duft der Kerze.
Carmen drehte sich um und entdeckte einen kleinen Spiegel, der direkt neben ihrem Kopf an der Wand hing. Er hatte die Form eines Handspiegels mit einem schlanken Griff. Um die runde Spiegelscheibe war ein schlichter Rahmen aus rund gehobeltem, fast schwarzem Holz. Sie streckte die Finger aus, um ihn zu berühren. Das Holz war eben und glatt wie ihre seidenen Kleider.
Carmen blickte hinein und sah nichts als ihr Gesicht. In ihren Augen flackerten die Sehnsucht nach Schönheit und der Wunsch, für jemanden etwas Kostbares und Einzigartiges zu sein.
Sie drehte sich zu dem Spiegelmacher um. »Vielen Dank, Mijnheer. Ich schicke Euch drei Mädchen, wenn es Euch recht ist.«
Er nickte und erhob sich ebenfalls von seinem zierlichen Stuhl. »Werdet Ihr sie begleiten?«, fragte er und griff nach ihrer Hand.
Carmen spürte, wie sie errötete.
Sein Tonfall klang unbekümmert und gab ihr keinen Anlass, an seiner Ehrenhaftigkeit zu zweifeln. Doch etwas in seinem Blick verriet Carmen sein Interesse an ihr. Carmen schüttelte den Kopf.
»Auf Wiedersehen«, hauchte sie und ging dann zur Tür hinaus, ohne auf eine Erwiderung zu warten.
Ihr Herz klopfte noch immer aufgeregt gegen ihre Brust, als sie ihr Haus in der Keysersgracht betrat.
Nach zwei Monaten in London schickte Joseph Chadwick seinen jungen Gehilfen zum ersten Mal allein in die Stadt. Nik erledigte alles zur Zufriedenheit des Wollhändlers und war von nun an täglich auf den Straßen Londons unterwegs. Er brachte die Wolle zu den Spinnerinnen nach Hause und holte sie von dort wieder ab, um sie zu den Webern zu transportieren.
Der Herbst wurde stürmisch und kalt und Josephs Frau hatte ihm aus ihrer besten Wolle eine dicke Jacke gestrickt. Sie kratzte an seinem Hals, doch weder Wind noch Regen konnten sich durch die engen Maschen stehlen.
Auf jedem seiner Botengänge hielt er Ausschau nach den Werkstätten der Glaser.
Francis Hobbes war der erste Name, den das Mädchen ihm genannt hatte. Als Nik vor seiner Werkstatt stand, trat er unruhig von einem Fuß auf den anderen. Der Wunsch seines Vaters war nicht ungefährlich. Die Warnung der Kräuterhexe, die ihn im Hafen von Amsterdam erschreckt hatte, klang noch in seinen Ohren. Es gab Dinge, die nicht laut gesagt werden durften. Wenn er den Glaser nach einer besonderen Kugel fragte, die das Gesicht seiner Brüder zeigte, würde man ihn vielleicht der Hexerei bezichtigen.
Nik stellte seinen Karren unter dem Fenster des Hauses ab und klopfte an die Tür. Vielleicht konnte er nach etwas Gewöhnlichem fragen und einen Blick in die Werkstatt werfen, um heimlich nach einer besonderen Glaskugel Ausschau zu halten.
Er klopfte noch einmal. Schritte schlurften zur Tür. Jemand öffnete.
Ein alter Mann stand in der Tür. Hitze schlug Nik wie eine Faust entgegen.
»Was willst du, Bursche?«, fragte der Alte. Den kehligen Klang der Worte kannte Nik von einigen Seeleuten auf der Saint George .
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