Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)

Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)

Titel: Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antoinette Lühmann
Vom Netzwerk:
ihrem Ärger über diese Ungerechtigkeit nicht hingeben. Es war zu gefährlich auf den Straßen Londons. Sie hatte Conrads Mörder bis heute nicht finden können, und sie wusste nicht, ob jemand nach ihr suchte. Seit dem Mord war sie nicht mehr in die Werkstatt zurückgekehrt.
    Sie stampfte mit den Füßen auf, denn sie fror fürchterlich in den dünnen Stiefeln. Dann strich sie sich mit den Fingern ihr langes rotes Haar aus dem Gesicht und legte den Kopf in den Nacken.
    Die Wolken hingen tief und bald würde sich die Dunkelheit über die Stadt legen. Sie brauchte einen Schlafplatz für die Nacht. Der September war ungewöhnlich mild gewesen, doch es hatte in vielen Nächten geregnet. Alle Plätze, die sie zum Schlafen aufgesucht hatte, waren in kürzester Zeit zu feucht geworden. Sie hustete und sehnte sich nach einem heißen Becher Würzwein und einem dicken warmen Mantel.
    Ihre Tante wohnte in einem winzigen Haus in der Nähe der Stadtmauer und würde sie aufnehmen, ohne Fragen zu stellen. Von dort würde sie die Werkstatt ihres Meisters jedoch nicht im Auge behalten können.
    Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer einer kleinen Kirche und spähte die Straßen entlang. Niemand beachtete sie.
    Konnte sie unentdeckt in das Haus ihrer Tante fliehen, um sich dort zu verstecken? Durfte sie die alte Dame in Gefahr bringen? Sie zögerte. Von den Lehrlingen war sie als Einzige übrig geblieben. Wenn der Mörder ihres Meisters davon wusste, war ihr Leben noch immer in Gefahr.
    Als sich die Dämmerung über die Stadt senkte, löste sich das rothaarige Mädchen von der Mauer. Die Glocken der Kathedrale dröhnten durch die Gassen und hallten von den Häuserwänden wider. Unter dem Dach des Gotteshauses würde sie Menschen finden, die Meister darin waren, Geheimnisse aufzudecken und sich im Untergrund verborgen zu halten, denn in der Kathedrale von St. Paul trafen sich die Londoner Diebe.
    Nik folgte Joseph Chadwick wie ein Schatten, um die Stadt und die Menschen kennenzulernen, mit denen der Wollhändler zu tun hatte.
    An den ersten Tagen fiel Nik abends erschöpft ins Bett, und sein Kopf dröhnte von den vielen fremden Worten, deren Sinn er nicht verstand. Doch Nik lernte schnell und schon nach wenigen Wochen wurde es besser. In der Schule hatte ihm sein gutes Gedächtnis den Spott von Luuk und seinen Freunden eingebracht, doch hier in London nützte es ihm. Nik beobachtete die Menschen, mit denen Joseph verhandelte. Er las in ihren Gesichtern und erschloss sich den Sinn ihrer Worte. Immer wieder drehte sich Joseph zu ihm um und übersetzte ihm, was er mit den Tuchmachern und Spinnerinnen vereinbart hatte. Bald verstand Nik den größten Teil der Unterhaltungen und konnte den Neckereien der Frauen ein paar englische Worte entgegensetzen.
    Mit der Zeit lernte er nicht nur Hirten, Näherinnen und Weber kennen, sondern sah auch Hunderte von Schafen. Der Wollhändler verbrachte viele Stunden in den umliegenden Dörfern, um mit den Bauern über den Zeitpunkt der Schur zu sprechen. Nik hatte bislang nur in Amsterdam gelebt und staunte über die dunklen Wälder und die feuchten Moore, die sie durchquerten, um die Schäfer aufzusuchen. Jede Landschaft hatte ihren eigenen Geruch, der Nik an die Vielfalt der Gewürze in seinem Elternhaus erinnerte.
    Allerdings war der Herbst in London kalt und der feuchte Nebel kroch durch seine dünne Kleidung. Schon jetzt graute ihm vor den Stürmen und den Regenschauern.
    Als sie an einem besonders kalten Tag aus einem der Dörfer zurückkamen, empfing Olivia sie mit heißem würzigem Bier und einem knisternden Feuer. Die Frau des Wollhändlers setzte sich auf den Schemel neben dem Herd und beugte sich über ihre Näharbeit. Ihre Wangen leuchteten so rot wie Sommeräpfel, und ihre blonden Locken, die sie mit einem breiten Band zusammenhielt, hüpften wie üblich bei jeder Bewegung fröhlich auf und ab.
    Sie hob den Kopf und lächelte. Nik fragte sich, was einem Menschen geschenkt werden musste, um dieses zufriedene Lächeln zu besitzen, das eine derartige Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte. Er hätte das Geheimnis gerne erfahren, um es seiner Mutter mitzubringen.
    Olivia deutete auf den Tisch in der Mitte des Zimmers. Eine Kiste aus dünnem Holz stand darauf. »Das ist für dich, mein Junge«, sagte sie und widmete sich dann wieder ihrer Handarbeit.
    Nik öffnete den Deckel und der Geruch von würzigem Brot stieg ihm in die Nase. Er hatte Olivia und ihr wunderbares Lächeln ins Herz

Weitere Kostenlose Bücher