Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)
Dachgeschoss.
Die Anweisungen, die Heinrich ihr ins Ohr hauchte, wurden von einem sanften Klingen in ihrem Kopf umspült. Schweißperlen traten auf Benthes Stirn und tropften in die Schale mit der silbernen Masse und auf das Glas.
Entschlossen tauchte sie den Pinsel tief in die Schale und dann trug sie Strich für Strich eine hauchdünne silberne Decke auf die gläserne Scheibe. Jede ihrer Bewegungen folgte der leisen Stimme in ihrem Ohr und sie vergaß Raum und Zeit um sich herum.
Als jeder Fleck auf der Scheibe bedeckt war, sah sie auf. Es war dunkel geworden, doch ihr Meister stand unverändert neben ihr und beobachtete ihre Hände.
Benthe spürte, wie ihre Beine nachgaben. Sie waren nicht stark genug, um sie länger zu tragen. Winzige silberne Perlen spritzten auf den Fußboden, als der Pinsel zu Boden fiel. Benthe begriff erst, warum sie immer größer wurden, als sie mit dem Kopf neben ihnen auf den Steinen aufschlug. Sie wollte ihre Arme und Beine bewegen, um sich wieder aufzurichten. Doch sie gehorchten ihr nicht mehr.
»Ich bin erschöpft, Heinrich«, murmelte sie und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Nik ließ das Pergament sinken. Er bedankte sich bei Olivia und stieg die Stufen zu seinem Zimmer hinauf. Hastig öffnete er das Fenster und atmete den Duft von London ein. Er roch den Dreck von der Straße, die verbrannte Kohle aus den Öfen der Handwerker und einen feinen salzigen Geruch, der ihn an den Hafen und die Fischerboote erinnerte.
In seinem Kopf wüteten die Worte seines Vaters und die Sorgen, die sie ihm bereiteten. Nik riss an seinem Kragen. Er brauchte Luft und einen weiten Blick. Neben seinem Fenster ragten zwei Steine aus dem Mauerwerk hervor. Er streckte einen Fuß aus dem Fenster und seine Finger suchten nach Halt. Die Steine bröckelten unter ihm und fielen wie Staub zu Boden.
Nik fluchte über London mit seinen schiefen Häusern, verwinkelten Gassen und Dächern ohne Winden, die in Amsterdam dazu dienten, Waren und Möbel in die Häuser zu befördern. Sie waren bestens geeignet, um ein Seil daran zu befestigen und auf ein Dach zu klettern. Nik sah sich um und suchte schließlich in seinem Koffer nach einem Stück Tau.
Er fand einen Tampen und knotete ihn um das Holzgestell, in dem seine Matratze lag. Es war mit fingerdicken Nägeln an der Wand und dem Boden befestigt. Das Ende ließ er aus dem Fenster fallen. Dann versuchte er es erneut. Mit beiden Händen umfasste er das Seil und schwang sich aus dem Fenster. Der Bettkasten knarzte, doch er hielt seinem Gewicht stand. Mit den Füßen konnte Nik keinen Halt an der Wand finden. Etwas mehr als eine Armlänge entfernt, ragte die steinerne Säule aus dem Mauerwerk hervor, durch deren Inneres der Regen vom Dach hinabfloss. Nik streckte sich zu ihr herüber und zog sich über die hölzerne Kante, die mit Blei ausgekleidet war und das Wasser bis zum Fallrohr führte. Dann krabbelte er auf Händen und Knien die Schindeln hinauf. Sie waren feucht vom Regen der letzten Nacht und immer wieder rutschten seine Finger ab.
Als Nik endlich sein Bein über den First schwang, lief ihm der Schweiß unter dem wollenen Hemd den Rücken hinab. Vor ihm breitete sich ein Meer aus Dächern aus, das mit unzähligen Schornsteinen übersät war. Immer wieder wurde die rote Fläche von Kirchtürmen und Mauern durchbrochen. Nik sah den Nebel, der die entfernten Häuser einhüllte, und dachte an die tiefen Wälder, feuchten Moore und freundlichen Dörfer hinter der Stadtmauer, die er mit Joseph durchstreift hatte.
Irgendwo unter den Regenwolken lag die Themse verborgen.
Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie sie sich durch die Stadt schlängelte und gegen die vermoosten Pfeiler der Brücken schwappte.
Die Sehnsucht nach Freiheit ließ sein Herz klopfen.
Nik öffnete die Augen und betrachtete die Dächer der Nachbarn. Der Dachfirst im Süden lag nicht parallel zur Straße wie bei den Chadwicks, sondern im rechten Winkel dazu. Er rutschte bis an die Kante und ließ sich dann zu dem Dach der Nachbarn hinunter. Dort galt es wieder, sich auf Knien und Händen der Spitze zu nähern und auf der anderen Seite hinabzugleiten.
Er kletterte in südlicher Richtung von Haus zu Haus, und mit jedem Schornstein, den er hinter sich ließ, blies der Wind mehr und mehr von dem Kummer und der Verwirrung hinfort und ließ nur Freiheit und Abenteuerlust zurück.
An der nächsten Querstraße änderte Nik die Richtung und lief auf den Dächern nach Westen. Es fand
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