Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)
Schoß.
»Du bist früh zurück«, bemerkte sie. »Nimm dir Suppe vom Herd, wenn du hungrig bist.«
Er schüttelte den Kopf und setzte sich zu ihr. »Darf ich dir beim Nähen zusehen?«, fragte er leise.
»Du musst nicht flüstern. Niemand kann uns hören.« Sie musterte ihn und nahm dann den Flicken wieder auf. »Du wirst keine Ruhe geben, bis du es selbst kannst, oder?«
Nik grinste.
Olivia holte das Säckchen aus dem Geheimversteck hinter dem Mehlkrug und breitete den Inhalt auf dem Tisch aus. Dann erklärte sie ihm an einem Stück Leder, was er zu beachten hatte, wenn er eine große Wunde versorgte, und wie sich Haut im Gegensatz zu Stoffen beim Nähen verhielt.
Nachdem Nik eine Weile an dem Leder geübt hatte, nahm Olivia einen Brief aus ihrer Schürze. »Heute ist eine Nachricht von deinem Vater gekommen.« Olivia legte ihn vor Nik auf den Tisch und nahm ihre Handarbeit wieder auf.
Nik sprang auf und griff danach. Er faltete den Brief auseinander und drückte ihn an sich. Das Papier hatte das Meer überquert und roch trotzdem nach Zitrone und dem Tabak seines Vaters. Vielleicht bildete er es sich auch ein, weil die Sehnsucht nach zu Hause mit keinem Tag weniger geworden war, auch wenn London ihm mit seinen verwinkelten engen Gassen und den riesigen Palästen und Türmen ans Herz gewachsen war. Hier lag alles dicht beieinander, die ehrwürdigen Kirchen, die Spelunken, in deren Hinterhöfen betrunkene Männer Hunde aufeinanderhetzten, der Tower mit den Schreien der Sterbenden und die Cheapside, in der die Goldschmiede residierten. Der graue Nebel hüllte sie alle ein, die Reichen und Armen, die Ehrlichen und die Diebe. Nik sah Ellies Gesicht in dem Nebel der Erinnerungen und den Eindrücken der letzten Monate auftauchen.
Nik betrachtete den Brief. Er hatte ihn zwischen den Händen und seiner Brust zerknittert. Mit den Fingern strich er das Papier glatt und begann zu lesen.
Benthe hockte auf einem Schemel neben dem Ofen. Ihr Meister legte das glühende Glas auf den steinernen Tisch und walzte mit einem Holzkegel darüber. Die Muskeln an seinen Oberarmen zeichneten sich unter seinem Hemd ab. Jede Bewegung folgte einem geheimnisvollen Plan, als wäre sie seit Jahrhunderten einstudiert und erprobt. Die Stirn des Mannes glänzte feucht. Er richtete sich auf und betrachtete einen kurzen Moment lächelnd sein Werk. Dann widmete er sich der nächsten Arbeit mit der gleichen Leidenschaft und Hingabe.
Benthe saß seit Stunden auf dem Schemel und beobachtete jede seiner Bewegungen. Sie hatte noch nie in ihrem Leben jemanden gesehen, der auf diese Weise mit Leib und Seele bei seiner Arbeit war und in ihr versank. Benthes Beine schliefen ein und sie fiel rücklings vom Schemel. Dabei stieß sie mit dem Kopf gegen den steinernen Tisch und fluchte, während sie mit den Fingern an ihrem Hinterkopf nach einer Beule tastete.
Doch ihr Meister hörte es nicht, er stand vor dem Regal mit Dutzenden großen, verschlossenen Flaschen, die mit Pulver in den verschiedensten Braun- und Silbertönen gefüllt waren. Er nahm ein Löffelchen hiervon und eine Prise davon und zerrieb sie mit dem Stößel in einer gläsernen Schale. Dann hielt er ein kleines Fläschchen in der Hand. Benthe hatte nicht gesehen, woher er es genommen hatte. Er zog einen mit Hanf umwickelten Stopfen heraus und ließ den Inhalt hinauslaufen. Wie gefrorene Tränen fielen einige silberne Tropfen in die Schale. Benthe beobachtete mit offenem Mund, wie sich der Schein des Feuers auf ihnen spiegelte, als sie langsam hinabfielen.
»Mädchen«, sagte ihr Meister und sah sie an.
Benthe fuhr zusammen. Er stand vor ihr und schwenkte die Schale einige Male im Kreis, ehe er sie auf den Tisch stellte. Die kleine Flasche aber war wieder verschwunden. Er reichte ihr die Hand und zog sie auf die Beine.
»Streich es auf das Glas«, sagte er und deutete auf die Schale.
Benthe nahm den Pinsel, der neben der Schale bereitlag, und tauchte ihn in die Flüssigkeit. Sie war zäher als Wasser und waberte um die Pinselspitze herum, als wollte sie sich davor drücken, verteilt zu werden.
»Möchtest du einen einzigartigen Spiegel erschaffen?«, fragte ihr Meister dicht neben ihrem Ohr.
Benthe spürte, wie ihre Wangen glühten. Sie wollte in diesem Moment nichts sehnlicher, als etwas Außergewöhnliches zu erschaffen, um selbst etwas Besonderes zu sein. Nicht mehr nur die Tochter der Haushälterin und auf keinen Fall eines von den blassen, müden Mädchen aus dem
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