Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)
sich immer ein Haus, das er erreichen konnte. Nur zwei Mal hangelte er sich an Dachrinnen herunter, überquerte eine Straße und kletterte wieder zu den Dächern hinauf, bevor er die London Bridge erreichte. Die Häuser, die die Londoner auf der Brücke gebaut hatten, waren mit zierlichen Türmen verziert.
Nik ließ sich auf dem ersten Dach nieder und sah auf den Fluss hinunter. Unzählige Handelsschiffe lagen im Hafen vor Anker und Menschen liefen eilig durch die Straßen.
Eine Möwe zog kreischend ihre Kreise über ihm. Nik fuhr sich durch das lockige Haar, das der Wind zerzaust hatte. Er trug es inzwischen länger als in Amsterdam, und es fehlte nicht viel, bis es ihm auf die Schultern fiel. Auf dem Rückweg nach London würde er einen Zopf tragen können wie die anderen Matrosen und kaum von ihnen zu unterscheiden sein. Die Vorstellung gefiel ihm. Doch dann dachte er wieder an den Brief seines Vaters. Der Rückweg war in weite Ferne gerückt. Sein Vater war ungeduldig und forderte ihn auf, alles zu tun, um den Glaser zu finden, der Kugeln mit Gesichtern herstellte. Niks Bitte, nach Amsterdam zurückkehren zu dürfen, hatte er entschieden abgelehnt.
Nik seufzte. Sein Vater hatte ihm kein Schiff und keinen Tag für seine Abreise genannt, obwohl bereits der Frühling ins Land gezogen war, und er hatte noch mehr beunruhigende Neuigkeiten gehabt. Benthe war zu einem Spiegelmacher in die Lehre geschickt worden, der noch nicht lange in der Stadt war. Alle Handwerker, die im letzten Jahr nach Amsterdam gekommen waren, konnten Mitglieder der Gilde von Heinrich und Gustav sein. Die Vorstellung, seine Benthe könnte für einen von diesen furchtbaren Männern arbeiten, bereitete ihm Magenschmerzen.
Er musste einen Weg finden, die Kugel zu beschaffen. Sonst würde er womöglich von seinem Vater gezwungen, ewig in London zu bleiben. Vielleicht war Benthe in großer Gefahr, und er musste sie warnen und von ihrem Meister wegholen, bevor ihr Schaden zugefügt wurde. Die Zeit zerrann zwischen seinen Händen wie der Sand in einem Stundenglas, den er auf See so manche Stunde beobachtet hatte.
Vorsichtig rutschte Nik auf dem Dachfirst bis zum Schornstein und lehnte seinen Rücken daran. Die Möwe hatte Gesellschaft bekommen. Sie jagte die anderen von den Dächern fort und segelte zum Fluss hinunter. Die Fischerboote liefen, begleitet von ihrem Geschrei, zur abendlichen Arbeit aus. Die Geräusche der Händler und Bettler auf den Straßen weit unter ihm drangen nur gedämpft zu ihm hinauf.
Nik überlegte, welche Spur er noch nicht verfolgt hatte.
Der Glaser, bei dem Ellie gelernt hatte, war ermordet worden und konnte ihm nicht mehr helfen. Vielleicht hatte Ellie ihn angelogen und er lebte noch, hielt sich aber versteckt. Doch wenn sein Name Conrad war, dann musste sie die Wahrheit gesagt haben. Bei der Hinrichtung war von dem Mord an Conrad gesprochen worden, und schon in Amsterdam hatte er von Heinrich gehört, auf welche Weise ein Mann namens Conrad gestorben war. Die beiden Geschichten passten zusammen.
Nik sah auf den Fluss hinunter. Die Fischerboote waren im Nebel verschwunden. In den letzten Monaten hatte er mit unzähligen Menschen gesprochen und dabei musste er etwas übersehen haben. Irgendetwas Wichtiges war in seinem Kopf verborgen, aber es war in Nebel eingehüllt und er bekam es nicht zu fassen. Unter ihm bestiegen immer neue Fischer ihre Boote, um am Ufer der Themse ihre Netze auszuwerfen.
Nik wäre gerne bei ihnen gewesen. Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie er mit den Männern hinauspaddelte und mit flinken Fingern die rauen Netze entwirrte. Er spürte, wie die Kälte seine klammen Hände hinaufkroch. Noch lieber wäre er auf einem großen Segelschiff unterwegs. Er würde die Meere bereisen, in Salzwasser schwimmen, am Steuerrad stehen und Befehle geben. Die Mannschaft eilte über Deck und kletterte in die Takelage. An seiner Seite stand Benthe, jedoch hatte sie in seiner Vorstellung auffallende Ähnlichkeit mit Ellie. Nik öffnete die Augen und starrte in den Nebel.
Plötzlich fiel es ihm ein. Nik hatte es die ganze Zeit gewusst und nun war es endlich wieder an die Oberfläche gekommen. Harvey hatte von zwei Glasern gesprochen. Zwei Männer hatten die Gilde der Londoner Glaser verlassen. Das war die Spur, der er folgen konnte – er brauchte den anderen Namen.
Nik richtete sich auf. Er musste Harvey noch einmal aufsuchen, doch er durfte sich nicht auf sein Glück verlassen. Noch einmal würde der
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