Das Geheimnis des Templers - Episode VI: Mitten ins Herz (German Edition)
aus.«
Gero antwortete nicht sogleich. Wenn er Johan anschaute, musste er immer daran denken, wie schnell das Schicksal einen scheinbar
unbesiegbaren Ritter in ein hilfloses Häufchen Elend verwandeln konnte. Er erinnerte sich noch gut, wie der frisch aufgenommenen
Bruder vom Niederrhein bei der Aushebung eines Räubernestes im Wald von Clairvaux die unselige Begegnung mit einer Pechnase
gemacht hatte. Nie würde er die markerschütternden Schreie des jungen Kameraden vergessen, als das plötzlich herabstürzende
heiße Pech durch die Sichtschlitze in dessen Topfhelm gedrungen war und sich von dort aus über Wangen und Ohren verteilt hatte.
Ohne nachzudenken, hatte er Johan |32| gepackt und ihm Helm samt Haube vom Kopf gerissen. Anschließend hatte Gero nicht gezögert und den am ganzen Körper vor Schmerz
zitternden Schwerverletzten zu einem angrenzenden Bach geschleppt und ihn kopfüber ins kalte Wasser gesteckt. Nur so war es
möglich gewesen, die tiefen Verbrennungen zu kühlen und gleichzeitig zu reinigen, so dass eine allseits befürchtete, lebensbedrohliche
Vereiterung ausgeblieben war.
»Wenn ich es so gut hätte wie du und den halben Tag im Scriptorium verbringen dürfte«, erwiderte Gero mit einem halbherzigen
Lächeln, »würde es mir vielleicht besser gehen.«
Bevor Johan etwas erwidern konnte, mischte sich Francesco de Salazar, der dunkel gelockte Bannerträger, in das Gespräch ein.
»Wie wäre es, wenn Ihr das Ganze noch mal in Franzisch wiederholen würdet – Bruder Gerard? Ist Amtssprache hier, nur für den
Fall, dass Ihr es vergessen habt«, dozierte der hübsche Spanier, dessen dunkel gebräunte Haut seine südländischen Vorfahren
verriet.
»Francesco de Salazar, verliere du erst einmal deinen spanischen Bauernakzent«, erwiderte Johan in fließendem Katalanisch.
Dabei ließ er es sich nicht nehmen, das »r« besonders genüsslich auf der Zunge zu rollen. »Bevor du anderen vorschreibst,
wie sie’s miteinander halten sollen.« Einige der Umherstehenden, die Johans Replik verstanden hatten, lachten amüsiert.
Francesco, der einem angesehenen Grafengeschlecht des Königreiches Navarra entstammte, richtete sich zu voller Größe auf und
entfaltete sein breites Kreuz wie die Schwingen eines Adlers, während er die Fäuste in seine schmalen Hüften stemmte. »Johan
van Elk, denkt Ihr etwa, nur weil Ihr Euch glücklich schätzen dürft, dem Schoß einer katalanischen Rose entsprungen zu sein,
lasse ich Euch Eure Unverschämtheiten durchgehen?« Geschickt umrundete er Geros Bett und verpasste Bruder Johan eine kräftige
Kopfnuss.
Im Nu war zwischen dem Rotschopf und seinem braun gelockten Kontrahenten ein heftiges Gerangel im Gange, das jedoch einen
unzweifelhaft freundschaftlichen Charakter hatte.
Gero verspürte einen plötzlichen Stich im Herzen. Niemand von den Brüdern ahnte auch nur, welch grausames Schicksal ihnen
womöglich bevorstand.
|33| Und während einige von ihnen sich auf die verbleibenden Abendstunden vorbereiteten und mit Bürsten und Leinentüchern bewaffnet
das Dormitorium verließen, um sich im Waschhaus vom Staub des Tages zu befreien, schaute Gero nachdenklich in die Runde. »Hat
einer von euch Stru gesehen?«, rief er über die lärmenden Männer hinweg.
»Hat einer den lausigen Schotten gesehen?«, wiederholte ein blasser, blonder Jüngling mit gehässigem Unterton. Es war Guy
de Gislingham, ein englischer Bruder, der noch nicht lange der Komturei angehörte, und soweit Gero bekannt war, dachte er
wohl auch nicht daran, länger zu bleiben. Es hieß, er sei der Sohn eines einflussreichen englischen Adligen und er weile in
Bar-sur-Aube, um sich während seines Aufenthaltes in französischer Sprache fortzubilden und um seine Kenntnisse in der Kampfkunst
der Templer im Ursprungsland des Ordens zu erweitern. Danach würde er in sein Heimatland zurückkehren. Seiner eigenen Aussage
nach beabsichtigte er jedoch, später einmal einen höheren Posten im englischen Zweig des Ordens zu übernehmen. Geld hatte
seine Familie offensichtlich genug, und daher würde er keine Mühe haben, in Sphären aufzusteigen, die jedem gewöhnlichen Ritterbruder
aus dem ärmeren Niederadel verschlossen blieben. Trotz der kurzen Zeit seiner Anwesenheit stellte sich nicht nur Gero die
Frage, warum man den hochnäsigen Kerl nicht in Paris im Hauptquartier des Ordens belassen hatte, wo er mit seinem Standesdünkel
weitaus besser aufgehoben
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