Das Geheimnis des Templers - Episode VI: Mitten ins Herz (German Edition)
mit seiner nach Osten ausgerichteten Apsis befand sich an der Außenseite der Komturei. Gero,
Johan und einige andere Kameraden schlüpften durch eine unscheinbare, eisenbeschlagene Holztür, die es den Bewohnern ermöglichte,
ohne große Umwege vom Innenhof her das Gotteshaus zu besuchen. Dessen Hauptportal an der Westseite wurde nur an hohen Feiertagen
geöffnet, wenn man die Bewohner der nahe gelegenen Stadt Bar-sur-Aube zur gemeinsamen Messe einlud.
Der noch recht neue, sakrale Bau war ein Meisterwerk der Statik. Davon zeugte die kunstvolle Deckenkonstruktion mit ihren
bunt bemalten, spitz zulaufenden Bögen und den exakt gesetzten Schlusssteinen, in deren Mitte das Ordenskreuz herausgemeißelt
war. Das Dach war mit |38| sorgfältig geschnittenen Holzschindeln gedeckt, und die sechs schönen, gotischen Kirchenfenster bestanden allesamt aus kunstvoll
geschliffenem, bunt bemaltem Glas. Über der Westseite thronte eine prächtige Rosette, durch deren bunte Rundscheiben die letzten
Strahlen der Nachmittagssonne schillernde Muster auf den Altarstein warfen. Schweigend betrachtete Gero die vielfarbigen Lichtpunkte,
die einem himmlischen Blütenreigen gleich den Sockel einer beeindruckend großen und schönen Madonnenstatue umspielten.
Im Dämmerlicht des Kerzenscheins hatten die Männer in einem halbrunden Kreis Aufstellung genommen. Der angenehme Duft brennender
Bienenwachskerzen, die in einem schweren, eisernen Rundleuchter steckten, der über dem Altar an einer langen Kette herabhing,
verteilte sich zusammen mit dampfendem Weihrauch im Raum. Abwechselnd begannen die Brüder zu singen, dabei wiederholten sich
die immer wiederkehrenden lateinischen Texte nach einem speziell abgestimmten Rhythmus. Andächtig lauschte Gero der sonoren
Stimme seines Nachbarn, die ihn in einen Zustand fast mystischer Ruhe wiegte und ihn allen Gram für einen Moment vergessen
ließ.
Beim Verlassen der Kapelle ließ Gero den anderen Kameraden den Vortritt.
Er verweilte einen Augenblick vor einem kleineren Altar, der unmittelbar neben dem Eingangsbereich in das Mauerwerk eingelassen
war. Mit gebeugtem Haupt bekreuzigte er sich vor einem unscheinbaren Holzkreuz, bei dem man auf eine leidende Jesusfigur verzichtet
hatte. Ein Vaterunser musste vorab zur Reue gereichen. Sein Ausrutscher in den Mannschaftsräumen verlangte nach Ablass, und
den konnte Gero nur erwarten, wenn er mindesten einhundertzwanzig Vaterunser betete. Doch dafür hatte er keine Zeit. Obwohl
ihm der Appetit durch das Gespräch mit d’Our vergangen war, wartete im Refektorium das abendliche Vespermahl, dem er ohne
Zustimmung seines Komturs nicht fernbleiben durfte.
Sein hitziges Naturell hatte ihm schon so manche Bußnacht auf dem kalten Steinboden in der Kapelle beschert – auf dem Bauch
liegend, ausgestreckt wie Jesus am Kreuz. Er hatte sich längst damit abgefunden, dass ihn mehr die Kampfbereitschaft eines
Kriegers durchflutete als die Sanftheit des Mönchs.
|39| Als Templer sollte er im Idealfall beides zu gleichen Teilen miteinander vereinen. Doch allein der kräftige Körperbau und
seine Größe ließen erahnen, dass ihm das nicht immer gelingen wollte. Die großen Hände und sehnigen Arme schienen für den
Schwertkampf wie geschaffen und schleuderten den kostbaren Anderthalbhänder, den er von seinem Vater anlässlich des Ritterschlages
erhalten hatte, jedem Angreifer mit einer Leichtigkeit entgegen, als ob es sich nicht um eine sechs Pfund schwere Waffe, sondern
um einen morschen Stock handelte.
Begleitet von einem knarrenden Laut, öffnete Gero die kleine Tür zum Hof, wo Johan bereits auf ihn wartete. Allmählich zog
die Dämmerung herauf, und rundherum entzündeten rührige Knechte die Fackeln und Feuerkörbe.
Von der nahe gelegenen Stadtkirche St. Pierre läuteten die Glocken zur zwölften Stunde des Tages, und aus dem Backhaus drang
der Duft von ofenwarmem Brot.
Für einen Moment hielt Gero in seinen Schritten inne und packte Johan am Oberarm, damit er stehen blieb. Ein warmes Lächeln
umspielte die Lippen des flandrischen Templers, als er sich umwandte.
»Danke«, sagte Gero leise.
»Wofür?« Johan sah ihn überrascht an.
»Dafür, dass du mich heute bereits zum zweiten Mal vor einer Dummheit bewahrt hast.«
»Keine Ursache«, erwiderte Johan, dann zeigte er auf das halb geöffnete Hoftor.
»Schau mal, wer da kommt.«
Im Lichtschein der brennenden Fackeln beobachtete Gero, wie Struan seinen
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