Das Geheimnis des toten Fischers
war.
Aber auf mein Klopfen wurde die Tür
geöffnet, und eine große hagere Frau schaute mich an. Dreißig Jahre jünger, und
sie hätte die Frau auf dem Photo von Snelling, das Jane zeigte, sein können;
aber ihr Haar war ergraut und das Gesicht von tiefen Falten durchfurcht. Markante
Linien rahmten ihren Mund von der kräftigen Nase bis zum Kinn ein. Ich fragte
mich, ob Jane in zwanzig oder dreißig Jahren auch so aussehen würde, oder ob
sie sich dadurch davor bewahrt hatte, daß sie Salmon Bay den Rücken gekehrt
hatte, dem Ort, der ihre Mutter hatte verbittern und alt werden lassen.
Ich stellte mich vor, und Mrs. Anthony
bat mich hinein und führte mich in ihr Wohnzimmer. Es war überfüllt mit, wie
mir schien, wertvollen Antiquitäten. Mein erster Eindruck war der eines
heillosen Durcheinanders, aber als sich meine Augen an das dämmrige Licht
gewöhnt hatten, sah ich, daß jeder Gegenstand mit Sorgfalt aufgestellt und
abgestaubt war. Jane war offenbar nicht nur im Äußeren ihrer Mutter
nachgeraten.
Mrs. Anthony deutete an, ich solle auf
der Couch Platz nehmen und ließ sich dann selbst auf einen Schaukelstuhl
nieder, so, wie jemand es tut, der von Arthritis geplagt wird. Dann schaltete
sie die Stehlampe ein, und ich betrachtete Mrs. Anthony und nahm mir vor, das
Thema von Janes Verschwinden mit Taktgefühl und sehr behutsam anzugehen.
Bevor ich etwas sagen konnte, begann
Mrs. Anthony: »Sie erwähnten am Telephon, daß Sie eine Freundin meiner Tochter
sind. Was führt Sie nach Salmon Bay?«
»Ich versuche, Jane zu finden.«
»Und warum?«
»Ich muß mit ihr sprechen.«
»Worüber?«
Ich entschied mich, die Frage zu
ignorieren. »Wissen Sie, wo Jane sich aufhält, Mrs. Anthony?«
Ein seltsamer Ausdruck huschte über ihr
Gesicht; es konnte Zorn, aber auch Angst sein. »Nein.«
»Haben Sie Jane in letzter Zeit
gesehen?«
Sie schwieg nachdenklich einen
Augenblick, bevor sie antwortete: »Und wenn ich sie gesehen habe?«
»Mrs. Anthony, es ist wirklich sehr
wichtig, daß ich Ihre Tochter finde. Sie würden mir sehr helfen, wenn — «
»Warum sollte ich Ihnen behilflich
sein?«
»Sie würden auch Ihrer Tochter damit
nützen. Es ist sehr wichtig, daß ich mit ihr rede.«
»Worüber?«
»Ich fürchte, das kann ich nicht
sagen.«
Sie zögerte. Ich fühlte, daß sie mit
sich rang, was mehr im Interesse ihrer Tochter lag — ihr Privatleben zu wahren
oder mich mit ihr in Verbindung zu bringen. »Es ist sehr wichtig, sagen Sie?«
»Ja.«
»Also gut — sie war gestern abend
hier.«
»Gestern abend?«
»Ja. Ob Sie’s glauben oder nicht, sie
hat ihre alte Mutter besucht.« Aus ihren Worten klang beißender Sarkasmus.
»Wie lange ist sie geblieben?«
»Eine Stunde, vielleicht weniger. Aber
viel länger bleibt sie nie, wenn sich mich schon mal besucht.«
»Haben Sie ihr gesagt, daß ihr Freund,
Abe Snelling, versucht hat, sich mit ihr in Verbindung zu setzen?«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Was
wissen Sie über Abe Snelling?«
»Wir sind beide Janes Freunde...«
»Sieht so aus, als ob Jane plötzlich
eine ganze Menge Freunde hätte. Seltsam, früher hatte sie kaum welche.« Sie
stand auf und zog eine der Jalousien hoch, als wolle sie Licht in das Dunkel um
ihre Tochter werfen. Dann wandte sie sich mir zu und erklärte: »Hören Sie, Miss
McCone, ich habe Jane gesagt, daß Abe Snelling angerufen hat. Sie meinte, sie
ginge zurück zu ihm, sobald sie könnte. Und dann ist sie gegangen.«
»Aber sie hat nicht gesagt, wohin?«
Wieder huschte dieser seltsame Ausdruck
über ihr Gesicht. Diesmal glaubte ich es in einen Begriff fassen zu können:
Abneigung. »Nein. Meine Tochter vertraut sich mir nicht an.«
Ich dachte, gleich bittet sie mich zu
gehen, doch sie kehrte zu ihrem Schaukelstuhl zurück und ließ sich wieder
nieder. Offenbar war sie häufig allein und froh, endlich einmal jemanden zu
haben, mit dem sie reden konnte. Ich schaute mich in dem Raum um, dabei fiel
mein Blick auf ein gerahmtes Photo. Es war der alte Pier, wo ich kurz vorher
gewesen war, nebelverhangen und geheimnisvoll wirkend. Ich stand auf, ging
hinüber und betrachtete es genauer.
»Ein schönes Photo«, sagte ich.
»Jane hat es aufgenommen.«
»Ich wußte nicht, daß sie
photographiert.« Aber während ich es sagte, fiel mir ein, daß Snelling erwähnt
hatte, sie hätten etwas Gemeinsames, nämlich das Interesse an der Photographie.
»Sie photographiert nicht mehr. Sie
verdient sich ihren Lebensunterhalt nicht selbst,
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